: „Die Migrationsforschung ist gerade nicht gefragt“
Die Soziologin Helen Schwenken vom Rat für Migration kritisiert schrumpfende Debattenräume und fordert eine Rückkehr zu sachlicher, wissenschaftsbasierter Politik
Interview Nadine Conti
taz: Frau Schwenken, der Rat für Migration, dem Sie angehören, hat eine Stellungnahme zur Bundestagswahl veröffentlicht. In der wird die Politik aufgefordert, zu Fakten und Menschenrechten zurückzukehren. Veröffentlicht wurde sie ausgerechnet am 31. Januar – also unmittelbar nach dem Brandmauer-Drama. War das ein Zufall?
Helen Schwenken: Geplant war das natürlich schon länger. Wir – also Forschende im Rat für Migration – sehen schon länger mit Sorge, wie sich der politische Diskurs entwickelt und wie wenig dabei wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Migrationsforschung berücksichtigt werden. Da sich die Ereignisse um die Bundestagsabstimmung zuspitzten, musste es dann schneller gehen.
taz: Welche Aspekte beschäftigen Sie im Hinblick auf den aktuellen Diskurs gerade am meisten?
Schwenken: Vor allem die totale Verengung auf Asyl und Grenzen, sodass eine längerfristige Perspektive überhaupt nicht mehr vorkommt. Die katastrophale Wirkung des Diskurses auf die Menschen, die schon hier sind, wird nicht gesehen. Und dass unsere Ökonomie eigentlich auf Zuwanderung angewiesen ist – was die Wirtschaftsverbände ja sonst auch einfordern –, ist gerade überhaupt nicht vermittelbar.
taz: Im Moment dominieren zwei Aspekte: einerseits die Sicherheitsfrage und andererseits die Überlastung öffentlicher Institutionen. Wie bewerten Sie das?
Schwenken: Die Sicherheitsfrage auf Asyl und Grenzen zu verengen, ist ein Fehler. In den viel diskutierten Fällen waren es zunächst einmal psychisch kranke Menschen, die gewalttätig wurden und mordeten. Drei Einwände: Sie sind erstens auf ganz unterschiedlichen Wegen nach Deutschland gekommen. Zweitens, zu glauben, man könnte dem Herr werden, indem man an der Grenze abweist, ist schlicht eine Illusion. Wir wissen aus Untersuchungen solcher Grenzregime, dass man damit Flucht und Zuwanderung nicht vollständig unterbinden kann. Man verschlechtert aber die Bedingungen für die, die kommen. Und drittens, es gibt eine massive psychotherapeutische Unterversorgung von Geflüchteten. Das verbessert die Sicherheitslage ganz sicher nicht.
taz: Sie sprechen in der Stellungsnahme von veralteten Konzepten. Welche meinen Sie?
Schwenken: Zum Beispiel das Push-und-Pull-Modell, das in der Migrationsforschung schon seit mehreren Jahrzehnten als überholt gilt. Das stammt aus den 60er-Jahren, damals war das ein ganz interessantes Modell, weil es versucht hat, eine ganze Reihe von Faktoren für die Migrationsentscheidung zu berücksichtigen. Mittlerweile weiß man aber, dass das Ganze viel komplexer ist und Menschen nicht einfach durch diese oder jene Faktoren hin- und herbewegt werden. Trotzdem ist dieses Modell offenbar so eingängig, dass es in der Politik und in den Medien immer noch gern genommen wird, in Parlamentsdebatten genauso wie in Talkshows.
taz: Die Politik geht also in Ihren Augen von falschen Grundannahmen aus?
Schwenken: Oder ignoriert Dinge, die nicht ins Konzept passen. Im juristischen Bereich sehen wir ein ganz ähnliches Muster. Einen Asylantrag kann man nur stellen, wenn man im Land ist. Es gibt also gar keine Möglichkeit, als Asylantragstellender „regulär“ oder „legal“ einzureisen. Trotzdem wird den Menschen genau das vorgeworfen, mit dem Ziel, ihnen das Grundrecht auf Asyl zu verweigern, obwohl das ein klarer Verstoß gegen das Grundgesetz und die Genfer Flüchtlingskonvention wäre.
taz: Nun könnte man ja auch argumentieren: Grundgesetz und internationale Übereinkommen sind alle schön und gut, aber letztlich haben wir damit ein Ideal formuliert, das realistisch betrachtet gar nicht einzuhalten ist.
Der Rat für Migration (RfM) ist ein bundesweiter Zusammenschluss von rund 220 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die zu Fragen von Migration und Integration forschen.
Er wurde 1998 auf Initiative des Historikers Klaus J. Bade von der Universität Osnabrück gegründet, um eine „wissenschaftlich fundierte, kritische Politikbegleitung“ zu leisten.
Schwenken: Eine solche Argumentation speist sich letztlich auch nur aus dystopischen Fantasien, die gern erzählt werden, aber keine empirische Grundlage haben. Sie gründen etwa in dem Glauben, bei uns herrscht so viel Wohlstand, wenn wir nicht aufpassen, kommt die ganze Welt. Aus der Entwicklungs- und Fluchtforschung wissen wir aber eben, dass die allermeisten Menschen lieber in ihrer Heimat oder zumindest in der Region bleiben wollen. Zumal eine transnationale Flucht mit so hohen Kosten verbunden ist, dass sie sich nur wenige leisten können.
taz: Genau dieser Umstand macht das System aber fundamental ungerecht und verlogen. Man schaltet einen brutalen Auslesemechanismus vor, der dafür sorgt, dass nur die es hierher schaffen, die genug Kraft und Geld haben – und tut dann so, als wären humanitäre Gründe für die Aufnahme entscheidend.
Schwenken: Aber diese Dimension der Gerechtigkeit spielt aktuell überhaupt keine Rolle. Dazu müsste man eine eher globale Betrachtungsweise einnehmen. Was wir jetzt sehen, ist ein Revival von Nationalismus und Eigeninteresse – das ist übrigens anders als in den 90er- und 2000er-Jahren, in denen man Globalisierung eher als Chance oder als unausweichlichen Prozess begriffen hat. Diesen Egoismus sieht man ja auch in der Debatte nach schrecklichen Attentaten: Bei Tätern wie dem von Aschaffenburg wird nur gefragt, warum waren die nicht längst abgeschoben? Aber würde es das denn besser machen, wenn diese Taten in Bulgarien begangen worden wären?
taz: Und wie könnte es nun gelingen, die Debatte zu versachlichen?
Helen Schwenken
Jahrgang 1972, ist Direktorin des Institutes für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück.
Schwenken: Das ist natürlich wahnsinnig schwer. Wir sehen ja leider auch, dass dieses Phänomen nicht auf Deutschland beschränkt ist. Wir sehen das in Österreich und in den USA, aber auch weit über Europa hinaus. Es gibt eine globale Entwicklung hin zu autoritären, populistischen Positionen. Im Grunde müssten wir viel stärker auf die Problemfelder gucken, um die es tatsächlich geht: Gesundheit, Wohnen, Bildung, Infrastruktur. Die Lösung liegt vermutlich in einer sozial gerechteren Politik für alle.
taz: In der Stellungnahme sprechen Sie auch über die Auswirkungen auf die Wissenschaft und Forschung. Was befürchten Sie?
Schwenken: Wir sehen in den USA, dass Förderungen gekappt und Forschungsdaten zu schwierigen, sensiblen Themen einfach gelöscht werden oder nicht mehr publiziert werden dürfen. Das ist in Deutschland natürlich noch lange nicht so schlimm. Aber was wir auch merken: Es gibt in der aktuellen Debatte gar keinen Bedarf an wissenschaftlicher Expertise, die Migrationsforschung ist gerade gar nicht gefragt – weder in der Politik noch in den Medien. Wir hatten sonst viel mehr Anfragen, wenn es um Gesetzesvorhaben und Maßnahmen ging. Aktuell geht es nur um Meinung – und darum, sich gegenseitig zu überbieten. Vor allem mit repressiven Maßnahmen, die als einfacher nachvollziehbar gelten – unabhängig davon, wie wirksam sie am Ende tatsächlich sind. Da stört Wissenschaft eben oft, weil sie Antworten verkompliziert.
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