Hamburgs Obdachlose im Winter: Das bisschen Kälte …
Hamburg verlangt von Obdachlosen, oberhalb minus fünf Grad die Notschlafstelle zu verlassen. Helfer kritisieren das und juristisch ist es fraglich.

In den vergangenen Tagen, als das Thermometer in Hamburgs frühmorgens minus sechs Grad maß, es tagsüber aber auf plus drei Grad stieg, gilt laut der Sozialbehörde die Stufe Orange. Heißt: Die Menschen müssen raus auf die Straße. Aber sie bekommen vier Stunden Drinnensein dazu, denn sie dürfen morgens statt normalerweise bis um 9.30 bis um 11.30 Uhr in der Unterkunft bleiben und dürfen nachmittags statt um 17 Uhr schon um 15 Uhr zurück.
„Wir nutzen ein Ampelsystem, das sich an den Warnstufen des Deutschen Wetterdienstes orientiert“, sagt Sprecherin Anja Segert. Das werde jeweils tagesaktuell entschieden.
„Das ist ein Stufenplan, den hat der Wetterfrosch gemacht“, sagt Ronald Kelm, Helfer beim ehrenamtlich arbeitenden Gesundheitsmobil. „Ich vermisse hier ernste gesundheitliche Kriterien.“ Denn auch bei Nässe und Kälte um den Gefrierpunkt könnten Menschen unterkühlt werden.
Tagsüber raus, um Lebenslage zu verändern
„Das Winterwetter ist nicht nur kalt, sondern auch nass“, erklärt seine Kollegin, die Intensivmedizinerin Lina Ko. Gerade die nasse Kälte sei gefährlich. „Ab einer Körpertemperatur von 35 Grad spricht man von Unterkühlung. Je niedriger die Körpertemperatur ist, desto höher das Risiko für schwere Infektionen wie Lungenentzündungen“, erklärt die Ärztin, die ehrenamtlich beim Gesundheitsmobil hilft.
Das Winternotprogramm gibt es seit mehr als 30 Jahren. Es startet stets am 1. November und bietet in diesem Jahr 400 Plätze in der Hamburger Friesenstraße 22 und 300 an der Châu-und-Lân-Straße 72 [Wer soll denn außerhalb Hamburgs wissen, wo genau das ist?; d. säzz.].
Gedacht ist, dass die Menschen tagsüber eine der Tagesaufenthaltsstätten aufsuchen und sich „um ihre persönlichen Angelegenheiten kümmern, um ihre Lebenslage zu verändern“, teilt die Behörde mit. Dazu gehöre es, das Jobcenter und Beratungsstellen aufzusuchen.
Ronald Kelm hält dagegen, dass viele Tagesaufenthaltsstätten nur stundenweise geöffnet seien, und, sofern von Ehrenamtlichen betrieben, oftmals auch zu klein seien. „Die Menschen halten sich in U- und S-Bahnen auf oder in Einfahrten, um sich vor der Kälte zu schützen“, sagt Kelm. Auch hätten die Tagesaufenthaltsstätten zu wenig Plätze. Rund 500 sind es laut einer Pressemitteilung des Sozialverbands SoVD, der ebenfalls die ganztägige Öffnung des Winternotprogramms fordert.
Die neue Regelung je nach Außentemperatur führt bei dem SoVD-Landesvorsitzenden Klaus Wicher zu Kopfschütteln. Die Bedingungen in den Winternotunterkünften seien besser geworden, doch diese Tagesöffnungen seien an den Menschen vorbei gedacht. „Bei plus zwei Grad geht es morgens gnadenlos raus aus der Unterkunft“, sagt Wicher. „Das ist weder gemütlich noch macht es den Obdachlosen Spaß. Bei minus fünf Grad dürfen sie länger im Warmen bleiben.“
Ronald Kelm, ehrenamtlicher Helfer beim Gesundheitsmobil
In beiden Fällen sei es sehr kalt draußen, sagt Wicher. „Das ist eine merkwürdige Art, wie man auf diese Menschen zugeht.“ Nötig seien ernst zu nehmende Perspektiven wie Housing First. „Die, die das nicht schaffen, brauchen unsere Menschlichkeit“, sagt Wicher.
„Für mich ist die einzige kurzfristige Lösung eine ganztägige Öffnung des Winternotprogramms und längerfristig eine Vermittlung in Unterkünfte beziehungsweise Wohnraum“, sagt auch die Sozialpolitikerin Olga Fritzsche von der Linken. Die Unterscheidung nach Wetterlagen sei „einfach absurd“.
Auch das Diakonische Werk schaltete sich vergangene Woche über einen Bericht des Evangelischen Pressedienstes (epd) in die Debatte ein und forderte die ganztägige Öffnung des Winternotprogramms. Diakonie-Sozialexperte Dirk Hauer sprach von rund 3.800 Obdachlosen in der Stadt, deren Leben bei Schnee und Frosttemperaturen „akut gefährdet“ sei. Wer auf der Straße lebt, sei häufig chronisch krank, ergänzte der Mediziner Hans-Heiner Stöver, der sich ehrenamtlich im Diakonie-Zentrum für Wohnungslose engagiert.
Im vergangenen Jahr starben in Hamburg 26 Obdachlose auf der Straße, die meisten dem Bericht zufolge an „Komplikationen grundsätzlich gut behandelbarer Erkrankungen“. Stöver sagt, als Arzt rate er bei grippalen Infekten normalerweise dazu, „sich auszuruhen, warm zu halten, viel zu schlafen und zu trinken“. Das sei für Obdachlose unter den derzeitigen Bedingungen nicht möglich.
Erfrierungsschutz ist ein hohes Rechtsgut
Zum Stufenplan befragt, sagt Diakonie-Sprecher Malte Habscheidt, jede Stunde längere Öffnungszeit begrüße man natürlich sehr. „Wir denken allerdings, dass Menschen bei Schnee und anhaltender Kälte in den Unterkünften bleiben sollten.“
Nicht nur politisch, auch juristisch scheint es gegen die Wettertabelle Bedenken zu geben. Der Medizinrechtler Jens Prütting von der Bucerius Law School weist darauf hin, dass hier bei einem Erfrierungstod oder schweren Gesundheitsschäden „sehr hochrangige Rechtsgüter“ in Rede stünden, bei denen die sogenannte „Je desto“-Formel des Bundesverwaltungsgerichts greifen dürfte, die besagt, dass keine übermäßigen Anforderungen an die Ergründung des konkreten Schutzbedürfnisses gestellt werden dürfen.
Prütting: „Dementsprechend sollte darüber nachgedacht werden, ob die Entscheidung, erst bei minus fünf Grad durchgehend geöffnete Unterkünfte zu gewähren, hinreichen kann.“
Die Sozialbehörde verweist auf besagte Tagesaufenthaltsstätten. Mit deren Öffnungszeiten sei „die restliche Zeit des Tages abgedeckt“, sodass die Betroffenen sich nicht draußen aufhalten müssten. Zudem sei es so, dass man bei diesem Ampelsystem, sollte sich das Wetter zwischen Stufen befinden, „grundsätzlich zugunsten des höheren Schutzlevels für die Obdachlosen“ entscheide. Und kranke Obdachlose dürften „unabhängig vom Wetter den ganzen Tag“ bleiben.
Ronald Kelm vom Gesundheitsmobil berichtet: „Wenn sie drin bleiben wollen, brauchen sie ein Attest.“ Zu ihm an den Wagen sei in diesem Winter ein Mann mit Lungenentzündung gekommen, nur damit er ein Attest bekommt und drin bleiben kann. „Das kann es doch nicht sein.“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach Absage für Albanese
Die Falsche im Visier
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart