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Diskrepanz zwischen Wissen und Wirken

Sich für den Schutz der Erde zu positionieren, die Suche nach Lösungen aber anderen zuschieben, ist unredlich. Wir sind Teil des Problems. Wir tragen die Verantwortung

Illustration: Katja Gendikova

Von Udo Kords

Das Szenario ist ein Mittelstandsgeburtstag. Geburtstagskind und Eingeladene sind um die 50, Akademiker und Akademikerinnen. Die Mehrheit wohnt in den eigenen vier Wänden. Menschen mit einem Einkommen, das sie nicht sorgenvoll auf die nächste Gasrechnung und in die Zukunft schauen lassen muss. Man schenkt sich Bücher und guten Wein. Uns geht es gut.

Die Gespräche drehen sich um die Kinder, um den Beruf und natürlich um den Urlaub. Die Planungen für das neue Jahr sind in vollem Gange. Es ist wie ein Wettbewerb, bei dem jeder den anderen in der Entfernung des Urlaubsziels übertreffen möchte. Es wird geflogen, als gäbe es keinen Klimawandel. Das Fernweh ist groß. Und doch war es an vielen Zielorten im letzten Jahr so heiß, dass es wirklich keinen Spaß gemacht hat, am Stand zu liegen oder Ausflüge zu unternehmen. Wie ärgerlich. Zum Glück war das Hotel klimatisiert.

Spätestens hier wird es schwierig. Wenn einem die 30 Grad in Deutschland schon zu schaffen machen, die eine direkte Folge unseres energieintensiven Lebenswandels sind, warum dann an einen Ort mit 40 Grad fliegen und damit noch einen aktiven Beitrag zu dem akuten Umweltproblem leisten? Und darüber jammern. Dieses Maß an ausgeblendeter Wirklichkeit können wir uns nicht mehr leisten.

Wenn man selbst Teil des Problems ist, fehlt häufig die Distanz für einen klaren Blick auf die Situation. Und Urlaub scheint als Thema außerordentlich ungeeignet zu sein, um für das Anliegen Umweltschutz und Verhaltensänderung Unterstützung zu finden. Der Alltag ist schon ein Spießrutenlauf durch unzählige Verpflichtungen, und gerade deshalb besteht die Erwartung, dass in den schönsten beiden Wochen des Jahres der Alltag möglichst weit hinter sich gelassen wird. Mehr denn je gehört es zum Selbstverständnis, ist Statussymbol und Ausdruck für Weltoffenheit, Bildung und Wohlstand, möglichst weit herumgekommen zu sein.

Klimaschutz im Alltag tut da vielleicht etwas weniger weh. Als Russland den Gasexport einstellte, forderte der Chef der Bundesnetzagentur private Haushalte dazu auf, den Energieverbrauch um 20 Prozent zu senken. Möglich ist das ohne größere Einschränkungen, allein wenn man den größten Stromfresser im Haus, die Tiefkühltruhe, abstellt. Frische Produkte sind grundsätzlich besser, und Tiefkühlprodukte haben eine schlechte Ökobilanz. Und doch erscheint für die Gäste auf dem Mittelstandsgeburtstag die Vorstellung, auf ein Tiefkühlgerät zu verzichten, als absurd. Recht schnell kommt dann auch das Totschlagargument zum Schutz vor solchen Ideen: Die wirklichen Hebel lägen doch ganz woanders. Die Politik, China, Trump. Welche Rolle spielt meine Kühltruhe ­global?

Wir leben in einer moralisch aufgeladenen Bekenntnisgesellschaft, in der zwar viel über Werte gesprochen wird, aber die Verantwortung dann doch immer erst bei anderen gesehen wird. Komplett absurd wird es, wenn sich Klimaschützer dann auch noch rechtfertigen müssen.

Es sind gebildete Menschen, Lehrer, Produktentwicklerinnen, Techniker, Menschen, die Verantwortung tragen und die etwas bewegen könnten, um die Welt zum Besseren zu verändern. Doch bei der Nachhaltigkeit erfolgt der komplette Selbstboykott und trotzige Verweigerung, eine selbst erklärte Hilflosigkeit und Ohnmacht, eine kollektive Kapitulation aus Mangel an Selbstvertrauen in die eigenen Möglichkeiten und dem Verlust des Glaubens, dass man selbst etwas bewirken kann.

Das ist ein sehr einfacher Weg, sich aus der Verantwortung zu stehlen und die Widersprüche unserer Lebensführung aufzulösen. Aber es bleibt die Frage: Wie ernst können wir uns selbst dabei noch nehmen? Man muss nicht Psychologie studiert haben, um zu wissen, dass Verdrängung die Probleme nur verschärft, sowohl die ökologischen als auch die für das eigene Wohlergehen.

Warum nehmen gefühlt die Anspannung und das Aggressionspotenzial in unserer Gesellschaft kontinuierlich zu? Auch, weil viele Menschen sich der Diskrepanz zwischen ihrem Wissen und ihrem Handeln, ihrer Verlogenheit und Inkonsequenz, ihrer fehlenden Kraft zur Gestaltung eines Lebens in Übereinstimmung mit ihren Werten sehr wohl bewusst sind. Die Frage nach einem anderen Leben ist für sie schmerzhaft, weil sie wissen, wie ­berechtigt sie ist. Ein guter Grund also, an der aktuellen Situation etwas zu verändern: unser Wohlbefinden. Die Rückeroberung des Stolzes auf sich selbst und der Freiheit, Nein sagen zu können zu einzelnen Auswüchsen des eigenen verschwenderischen und zerstörerischen Lebensstils. Die bewusste Entscheidung gegen eine Flugreise, den Kauf der zehnten Jeans oder ein Steak hat keinen messbaren Einfluss auf die globalen Klimaveränderungen, aber es ist ein Akt gelebter Verantwortung und persönlicher Integrität. Was aber häufig übersehen wird: Solche individuellen Verhaltensänderungen sind auch aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive von unschätzbarer Bedeutung, denn jeder Veränderungsprozess beginnt immer bei einzelnen Menschen.

Foto: privat

Udo Kords

ist Politikwissenschaftler und promovierte zur deutschen Klimapolitik. Zentral beschäftigt ihn die Frage, wie die erforderliche Nachhaltigkeitstransformation in Unternehmen gelingen kann.

Nun gibt es Rahmenbedingungen, die Selbstentwicklung und individuelle Veränderungsprozesse erschweren oder begünstigen. Nachhaltig zu leben in einem nicht nachhaltigen Umfeld ist fast unmöglich. Was allerdings sehr hilft, ist, Mitstreiter an seiner Seite zu wissen und als Teil einer gleichgesinnten Gruppe zu agieren. Wir sind soziale Wesen. Wir wollen dazugehören und suchen Halt und Bestätigung in Gruppen. Deshalb vernetzten wir uns mit Familienmitgliedern, mit Arbeitskollegen, Kommilitonen oder Sportfreunden. Wir sind fast alle Teil unzähliger selbst organisierter kleiner Netzwerke.

Wir teilen digital Joggingstrecken und Laufzeiten und messen uns mit fremden Menschen. Diese spielerisch-sozialen Instrumente könnten viel stärker für ökologisch relevante Aktivitäten genutzt werden, etwa um im Freundeskreis oder in Nachbarschaftszirkeln gemeinsame Projekte zu entwickeln oder Wettbewerbe zu organisieren, wer was am schnellsten erreicht. Es könnte in diesen Netzwerken ein Austausch stattfinden, es könnten kleine Inseln geschaffen werden, wo Menschen sich gegenseitig darin bestärken, neue Verhaltensweise zu erproben, und das Gefühl entwickeln, gemeinsam etwas zu bewirken.

Die gute Nachricht ist: Es reicht bereits eine kleine Gruppe Gleichgesinnter als Startpunkt. Und diese zu bilden ist überraschend leicht. Es gibt interessante Studien darüber, warum während des Zweiten Weltkriegs Menschen ihr Leben riskiert haben, um verfolgte Juden bei sich zu verstecken. Wie der Historiker Rutger Bregmann in seinem Buch „Moralische Ambition“ schreibt, war ausschlaggebend, dass sie gefragt wurden. Bei vielen Menschen reicht offensichtlich ein kleiner Impuls, die Bitte um Hilfe aus, die Schwelle der Untätigkeit zu überschreiten. Das eröffnet unbegrenztes Mobilisierungspotenzial. Es braucht nur jemanden, der den ersten Schritt macht, jemanden fragt, der dann auch wieder jemanden fragt. Und so weiter. Wie bei einem Kettenbrief. Wenn uns etwas sehr wichtig ist, warum bitten wir dann andere nicht viel häufiger um Unterstützung? ­

Die Entwicklung einzelner kleiner Netzwerke ist die erste Stufe, auf die die Vernetzung von Netzwerken mit gleichen Interessen folgen muss, um größere Gemeinschaften mit mehr Wirkungskraft aufzubauen und politischen Einfluss entfalten zu können. Das klingt sehr einfach, und das ist es letztendlich auch. Es gibt unglaublich viele kleine Gruppen, die sich für die Lösung sozialer und öko­logischer Probleme engagieren, die eine ­lebenswerte Zukunft gestalten wollen, aber sich nicht mit anderen verbinden. Es gibt noch sehr viel Raum für engagierte Menschen, sich stärker zu vernetzten und Netzwerkkräfte zu bündeln. Die ­sinnvolle Nutzung digitaler Technologien gehört dazu.

Die bewusste Entscheidung gegen eine Flugreise, den Kauf der zehnten Jeans oder ein Steak ist ein Akt gelebter Verantwortung und persönlicher Integrität

Gesellschaftliche Veränderung ist immer ein Dreischritt: ich – wir – alle. Und alle sind weniger, als viele vielleicht denken. Erica Chenoweth, Politikwissenschaftlerin an der Harvard University, entdeckte das „Gesetz der 3,5 Prozent“. Chenoweth hat Bewegungen untersucht, deren Ziel der Sturz eines Regimes oder einer Regierung war. Aber auch Protestbewegungen, die einen Wechsel der Politik erzwingen wollen, fallen unter dieses Gesetz. Der Prozentwert bezieht sich auf den Anteil der Bevölkerung, der sich aktiv für ein Thema engagieren muss, um politische Entscheidungen zu erwirken, also tatsächlich für seine Anliegen auf die Straße geht und sich als Gruppe Sichtbarkeit verschafft. Eine erstaunlich niedrige Zahl. Bezogen auf die Bevölkerung Deutschlands sind dies zwei Millionen Menschen. Fridays for ­Future war auf dem richtigen Weg, hat aber leider zu früh aufgegeben und das Netzwerkkonzept zu wenig verfolgt. Zum Vergleich: Etwa 9,3 Millionen Menschen in Deutschland ernähren sich fleischlos. Das sind 4,3 Prozent der Bevölkerung. Vernetzt euch und eröffnet den Weg in ein deutlich fleischreduziertes und klimafreundlicheres Zeitalter.

Es bleibt dabei: Den ersten Schritt müssen immer wir machen. Nicht der Nachbar mit seinem übergroßen SUV. Nicht die Politik mit umfassenden Subventionen für Wärmepumpen. Und auch nicht die Industrie mit Lösungen für eine Kreislaufwirtschaft.

Noch während der Mittelstandsgeburtstagsfeier haben wir eine neue Gruppe gegründet: Wöchentlich teilen wir unsere privat gefahrenen Auto- und Fahrradkilometer und die gemachten neuen Erfahrungen. Fast alle machen mit. Ein ­erster Schritt. Jetzt brauchen wir noch eine App, die solche Netzwerkinitiativen unterstützt. Und ich weiß auch schon, wen ich dazu ansprechen kann.

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