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Migration und Demokratie

Die Themen Flucht und Asyl beherrschen den Wahlkampf. Doch statt die Realität der Migrationsgesellschaft zu bekämpfen, braucht es eine neue Form der Bürgerschaft.Ein Kommentar aus Sicht der Migrationsforschung

Demo „Merz & AfD stoppen – Asylrecht verteidigen“ am 31. 1. in Hamburg Foto: Jannis Große

Von Manuela Bojadžijev, Ivo Eichhorn, Serhat Karakayali und Bernd Kasparek

Seit Tagen gehen Hunderttausende auf die Straße, um gegen das parlamentarische Paktieren von CDU/CSU, FDP und AfD ein Zeichen zu setzen. Denn seit den Ereignissen der vergangenen Woche im Bundestag ist für viele die Möglichkeit eines konservativ-faschistischen Bündnisses vorstellbarer geworden. Friedrich Merz hat demonstriert, dass er trotz gegenteiliger Beteuerungen bereit ist, für seine Vorhaben die Zustimmung der AfD einzusammeln. Die Akklamation durch die AfD schien den Kanzlerkandidaten nicht im Geringsten zu stören, als er die Aktion zu einer Sternstunde des deutschen Parlamentarismus erklärte. Doch ein Blick auf die von der Union eingebrachten Anträge offenbart, dass ihr Schulterschluss mit der AfD auf der Ebene der vorgeschlagenen Maßnahmen und der Rhetorik schon längst stattgefunden hat.

Für die Union liegt die Quelle gesellschaftlicher Unsicherheit in der Migration als solcher. Ihr geht es nicht ausschließlich um alleinstehende männliche Asylsuchende, gegen die Friedrich Merz immer wieder gern hetzt. In der Bundestagsdebatte wiederholte der CDU-Vorsitzende etwa das rassistische Gerücht der „täglich stattfindenden Gruppenvergewaltigungen aus dem Milieu der Asylbewerber“. Die Union will tatsächlich keinerlei Fluchtmigration mehr zulassen. Daher fordert sie die Schließung der Grenzen sowie die Beendigung des Familien­nachzugs für subsidiär ­Geschützte.

Einfache Antworten auf komplexe Fragen haben im Wahlkampf schon immer Konjunktur, rassistische Hetze leider auch. Mal sind es Geflüchtete aus der Ukraine, mal abfällige Bemerkungen über „kleine Paschas“. Die Gesamtheit der Mi­gran­t:in­nen ist gemeint oder kann jederzeit gemeint sein.

Das Vorhaben der Union, schwere Straftaten zusätzlich mit dem Verlust der Staatsbürgerschaft zu bestrafen, unterstreicht, dass ihre Migrationspolitik auf die Spaltung der Migrationsgesellschaft – also die Gesellschaft, in der wir alle gemeinsam leben – abzielt. Schon der Besitz eines Doppelpasses gerät dadurch zum Beweis, doch kein richtiger Deutscher, keine richtige Deutsche zu sein. Das geplante Vorhaben gleicht einer Staatsbürgerschaft auf Widerruf, die nur mehr ein Zugeständnis an einige regelkonforme Untertanen ist. Die Union zielt auf alle Errungenschaften, die in den antirassistischen Kämpfen um Inklusion, Gleichheit und die Demokratisierung der Migrationsgesellschaft erstritten wurden.

Aber auch SPD und Grüne tummeln sich auf diesem Feld. Ein Mehrpunkteplan folgt dem nächsten, um sich nicht dem Vorwurf der Untätigkeit auszusetzen und keine Koalition unmöglich zu machen. SPD und Grüne verweisen darauf, dass die Vorhaben von Union und AfD nicht zielführend seien, dass sie Hand anlegten an das demokratische und rechtsstaatliche Fundament Deutschlands und Europas und dass sie den Bedürfnissen von Wirtschaft und Demografie nicht Rechnung trügen.

So weit so richtig. Doch im Grunde – so hart muss es gesagt werden – stimmen sie der Behauptung der AfD und der Union zu, Migration sei ein Problem, sei Quelle gesellschaftlicher Unsicherheit. SPD und Grüne träumen den alten Traum der Migrationssteuerung – dass also die Politik an migrationspolitischen Stellschrauben drehen könne, um „gute Migration“ zu fördern und „schlechte Migration“ zu reduzieren. Ihre Verteidigung der einschneidenden Maßnahmen der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zielt darauf ab, die Regulierung von Migration an die Außengrenzen zu verlagern. Genau diese Politik wurde in der EU bereits seit den 2000er-Jahren versucht und hat die lange Krise der europäischen Migrationspolitik verursacht.

Die Einigkeit scheint also groß zu sein. Migration ist ein Problem, das gelöst werden muss. Während die einen sie verunglimpfen, weisen die anderen auf ihre Komplexität hin. Es brauche bessere Instrumente, um Migration zu steuern und zu bewältigen. Es brauche feinere Unterscheidungen, um gezielter eingreifen zu können. Doch schon jetzt gibt es zahlreiche rechtliche Unterscheidungen und Statusgruppen. Allein die in Deutschland lebende Bevölkerung ist vielfach in unterschiedliche Rechtsstatus, von der Duldung bis zur vollen Staatsbürgerschaft, aufgeteilt.

Selbstverständlich ließe sich die Migration noch weiter unterteilen, in gute und schlechte Ausländer, in Flüchtlinge und Arbeitsmigrant:innen, in subsidiär Geschützte und „high-skilled migrants“, in weibliche Arbeitsmigration und queere Flucht, in Flucht aus dem Globalen Süden und Migration aus Asien, in Mi­gran­t:in­nen erster, zweiter, dritter und vierter Generation. Doch was wäre damit gewonnen?

Jede Unterteilung muss Kriterien benennen und begründen, warum aus ihnen abgeleitet werden kann, der jeweiligen Gruppe bestimmte Rechte zu- oder abzusprechen. Schon jetzt dienen Herkunft, Ausbildung, Migrationswege et cetera als Kriterien dieser Art. Sie alle bilden jedoch den Sockel, auf dem rechte Kräfte immer wieder aufbauen, um die Gesellschaft zu spalten.

Seit es Kämpfe um Demokratie gibt, gehört es zu ihrem Standardrepertoire, bestehende Ungleichheiten und Differenzen in Ressentiments zu verwandeln. Von der Einführung des allgemeinen Wahlrechts über die Emanzipation der Jüdinnen und Juden, die Durchsetzung von Arbeitsrechten bis hin zur Gleichstellung der Geschlechter – immer wieder haben rechte Kräfte auf die Ausweitungen demokratischer Teilhabe mit der Mobilisierung solcher Ressentiments geantwortet. Gescheitert aber sind sie immer dann, wenn auf der Gleichheit aller beharrt wurde und man sich nicht spalten ließ. Die Reaktion von SPD und Grünen auf den migrationspolitischen Schulterschluss von Union und AfD wirkt deshalb so schwach, weil sie diesen Grundsatz missachten. Sie schlagen lediglich vor, steuerungspolitisch zu optimieren, was bisher nicht funktioniert hat.

Eine andere Prämisse ist notwendig, um den Kräften des Nationalismus etwas entgegenzusetzen: Demokratie und Migration sind einander nicht äußerlich. Migration ist so komplex wie Gesellschaft. Die demokratische Errungenschaft ist, diese Komplexität bezüglich der Rechte radikal zu vereinfachen: gleiche Rechte unabhängig von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, religiöser Weltanschauung et cetera. Dieser universelle Anspruch muss immer wieder neu durchgesetzt werden. Heute geht es um die Demokratisierung der Migrationsgesellschaft – als Gesellschaft aller, unabhängig von ihrer Herkunft.

Eine demokratische Migrationspolitik geht davon aus, dass alle, die von einer Politik betroffen sind, auch bei ihrer Gestaltung mitreden sollen. Sie fängt also dort an, wo Menschen- und Bürgerrechte nicht bloß als hoheitliche Zugeständnisse verstanden werden. Ihr Horizont aber ist es, alle Betroffenen zu Teilhabenden an den Entscheidungen darüber zu machen, wie das Zusammenleben organisiert ist und wer wo und wie zusammenlebt. Das beginnt bei dem Wissen um die schlichte historische Realität der Migrationsgesellschaft Deutschland und entfaltet sich darin, dass die Migrationsbewegungen aus kommenden Bür­ge­r:in­nen bestehen.

Alle, die von einer Politik betroffen sind, sollen auch bei ihrer Gestaltung mitreden

Eine demokratische Migrationspolitik versucht also, Institutionen der kollektiven Aushandlung und Entscheidungsfindung über bestehende Grenzen und Ungleichheiten hinweg zu etablieren. Weit über die Formen der politischen Repräsentation und des passiven und aktiven Wahlrechts hinaus schließt dies die Infrastrukturen der sozialen Reproduktion ein. Migrationsgesellschaft findet in den zentralen Parametern der Daseinsvorsorge statt: wie wir wohnen, arbeiten, gesund bleiben, uns pflegen und bilden. Hier wird sie ausgehandelt und hier beginnt ihre Demokratisierung.

Das ist keine Utopie. Die europäische Staatsbürgerschaft ist ein Beispiel dafür, wie eine graduelle Öffnung der Demokratie für ehemalige Mi­gran­t:in­nen aus europäischen Ländern möglich ist. Dies ging einher mit der Abschaffung der Binnengrenzen und der Entstehung europäischer demokratischer Institutionen und Verfahren.

Ist es wirklich ein Zufall, dass die Gefährdung dieser Errungenschaften heute mit dem Angriff auf die Migrationsgesellschaften in ganz Europa verbunden ist? Anstatt die lange bestehende Realität der Migrationsgesellschaft zu verleugnen und zu bekämpfen, gilt es, eine neue Form der Bürgerschaft in Europa anzuvisieren. Die Alternative dazu ist, das zeichnet sich global und europäisch immer deutlicher ab, eine neue Version des Grauens, das Europa und die Welt schon einmal verschlungen hat.

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