Expertin über die israelische Demokratie: „Wir müssen Israel neu erfinden“
Israel hat bis heute keine Verfassung. Die Politologin Dahlia Scheindlin erklärt, wie sich das auch auf den Umgang mit den Palästinensern auswirkt.

taz: Frau Scheindlin, Israel wird oft als einzige Demokratie im Nahen Osten gepriesen. Zu Recht?
Dahlia Scheindlin: Israel ist demokratisch genug, um zu wissen, wie undemokratisch es tatsächlich ist. Ich halte Israel persönlich nicht für eine Demokratie, sondern ein Land mit demokratischen Elementen. Aber es ist schwierig zu quantifizieren, wie demokratisch es genau ist. Denn alle Indexe, die auch die Demokratie in Israel bemessen, beschränken sich auf israelische Staatsbürger und schließen die palästinensischen Gebiete nicht vollständig mit ein.
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taz: Wie demokratisch ist Israel denn für seine Staatsbürger?
Scheindlin: Es schneidet nicht schlecht ab, und es kann tatsächlich als beste Demokratie im Nahen Osten in Bezug auf seine eigenen Staatsbürger gesehen werden. Es gibt eine freie Presse, regelmäßige Wahlen, eine demokratische Praxis und auch demokratische Erwartungen der Bürger. Aber es gibt eine sehr ernste Verschlechterung aufgrund eines langfristigen, methodischen Angriffs auf diese demokratischen Institutionen durch die politische Führung.
Die Wissenschaftlerin1972 in Montreal geboren, aufgewachsen in New York, zog sie 1997 nach Israel. Die promovierte Politikwissenschaftlerin war Beraterin bei 9 israelischen und 15 ausländischen Wahlkämpfen. Sie schreibt politische Analysen für die Tageszeitung Ha’aretz.
Das Buch2023 erschien „The Crooked Timber of Democracy in Israel: Promise Unfulfilled“ bei De Gruyter, 277 Seiten.
taz: Und für Nicht-Staatsbürger, für die Palästinenser?
Scheindlin: Das Problem ist, dass Israel auch drei Millionen Palästinenser in der Westbank kontrolliert, die sich ohne die Aufsicht Israels nicht bewegen können. Die in einem vollkommen anderen rechtlichen Regime leben, ohne einfache Bürgerrechte, ohne Wahlrecht. Dort herrscht ein israelisches Militärregime, die Westbank wurde de facto schon annektiert. Hinzu kommen die rund 350.000 Palästinenser in Ostjerusalem, die keine israelische Staatsbürgerschaft haben. Israel besetzt und kontrolliert auch den Gazastreifen, wo fast zwei Millionen weitere Palästinenser unter seiner Herrschaft stehen. Und wenn man so auf die Situation blickt, dann ist das fast ein Widerspruch, von der besten Demokratie im Nahen Osten zu sprechen.
taz: In Ihrem Buch, erschienen kurz vor dem 7. Oktober 2023, kritisieren Sie, dass die militärische Besetzung der Westbank und die Tatsache, dass Israel bis heute keine Verfassung hat, oft als zwei getrennte Themen gesehen werden. Warum?
Scheindlin: Eine Verfassung würde Israels territoriale Souveränität einschränken. Dann könnte man nicht Zivil- und Militärrecht in einer rechtlichen Bürokratie einfach mischen, wie es in der Westbank der Fall ist. Das würde auch die effektive Kontrolle Israels über den Gazastreifen während der meisten Jahre seit 1967 betreffen.
taz: Warum hat Israel keine Verfassung?
Scheindlin: Es existierten schon vor der Staatsgründung 1948 Verfassungsentwürfe. Aber es gibt aus meiner Sicht zwei Gründe dafür, dass es bis heute keine Verfassung gibt: Israels erster Ministerpräsident David Ben-Gurion wollte sich nicht mit den ultrareligiösen Parteien verfeinden, die wir heute ultraorthodox oder nationalreligiös nennen. Und diese wollten keine säkulare Verfassung, die über dem religiösen Gesetz stehen würde. Für sie ist die Verfassung Israels die Tora.
taz: Und der zweite Grund?
Scheindlin: Ben-Gurion war sich nicht sicher, ob arabische Bürger im Land gleiche Rechte genießen sollten oder nicht, und eine Verfassung hätte sie berechtigt, sie einzufordern. 1950 entschied die Knesset, dass sie keine Verfassung verabschieden wird – sondern nur Grundgesetze, die in der Regel vollkommen undefiniert waren und mit beliebiger Mehrheit verabschiedet, geändert oder annulliert werden konnten. Nur ein einziger Artikel in einem der Grundgesetze erfordert die hohe Zweidrittelmehrheit für Änderungen, wie sie in den meisten Verfassungen vorgesehen ist. Erst seit den 1990ern gibt es überhaupt Grundgesetze, die die Rechte des Individuums oder Menschenrechte bewahren. Viele weitere Bürgerrechte sind bis heute nicht gesetzlich verankert.
taz: Manche Linksliberale blicken nostalgisch auf die goldenen Jahre der israelischen Demokratie unter Ben-Gurion und seiner sozialistischen Mapai-Partei zurück. Ein Irrtum?
Scheindlin: Das ist falsch aus einer demokratischen Perspektive, auch aus einer historischen und empirischen. Ben-Gurion war sich keineswegs darüber im Klaren, ob er für eine Gewaltenteilung war, um seine Macht und die der Exekutive zu kontrollieren. Das war auch ein wichtiger Grund, weshalb er keine Verfassung wollte. Aber schon in den 1950er Jahren gab es vom Obersten Gericht Gegenwind. Es war so ziemlich die einzige institutionelle Kontrolle über das Ungleichgewicht der Exekutivgewalt, neben regelmäßigen Wahlen.
taz: Mit umstrittenen Justizreformen versucht Benjamin Netanjahu seit 2023, die Unabhängigkeit ebendieses Gerichts zu schwächen …
Scheindlin: Seine Regierung denkt nicht, dass sie damit ein undemokratisches Projekt vorantreibt, im Gegenteil. Sie verkaufen das so, dass sie Israel eigentlich demokratischer machen. So nach dem Motto: Gewählte Vertreter sollen das Land regieren, nicht irgendein Gericht.
taz: Netanjahu kritisiert, dass das Oberste Gericht seine Richter selbst auswählt, was undemokratisch sei. Muss es nicht auf irgendeine Art und Weise doch reformiert werden?
Scheindlin: Es gibt viele Probleme in der Justiz und einiges, was man reformieren müsste. Das größte Problem ist, wie langsam sie ist: Israel hat einen großen Rückstau an Fällen, weil es nicht genug Richter gibt. Aber das will die Regierung zum Beispiel gar nicht verbessern. Und Netanjahus Kritik muss ich zurückweisen: Das Oberste Gericht wählt sich selbst nicht, es gibt ein Komitee, das aus Richtern, Mitgliedern der Anwaltskammer, Ministern und Abgeordneten besteht. Solche Slogans von Benjamin Netanjahu und seinen Verbündeten sind manipulativ und inkorrekt.
taz: Die geplanten Justizreformen haben 2023 Hunderttausende in Israel auf die Straße gebracht, die Regierung musste teilweise zurückrudern. Spielt die fehlende Verfassung Israels eine Rolle bei den Protesten?
Scheindlin: Schon früh forderten die Demonstrierenden eine Verfassung. Und das hat mich sehr überrascht. Junge Menschen stellten verfassungsrechtliche Fragen, und Rechtswissenschaftler organisierten Teach-ins. Ich hoffe, dass genug Menschen klar ist, wie grundsätzlich die Krise der israelischen Demokratie mit dem aktuellen Konflikt in Gaza und der Besatzung im Allgemeinen verbunden ist. Es reicht nicht, Netanjahu aus dem Amt zu kriegen. Wir müssen Israel neu erfinden.
taz: Seit zwei Wochen gibt es wieder Massenproteste in Tel Aviv und Jerusalem, nachdem Netanjahu versucht hatte, den Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, Ronen Bar, sowie die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara zu entlassen. Geben Ihnen diese Demonstrationen wieder Hoffnung?
Scheindlin: Es gibt jetzt einen viel größeren Backlash als in vergangenen Jahren, in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Doch die Situation bleibt unvorhersehbar. Die Regierung setzt alles daran, diesen öffentlichen Widerstand zu brechen, aber ich weiß nicht, wo das enden wird. Ich bin also genauso beunruhigt wie schon die ganze Zeit über.
taz: Stellt der Versuch, die beiden zu feuern, einen Kipppunkt dar in Netanjahus Angriff auf Israels Demokratie?
Scheindlin: Das alles ist beispiellos. Es ist ein weiterer, erheblicher Schritt in Richtung des Zusammenbruchs demokratischer Institutionen und Praxis in Israel, doch die Situation war schon vorher kritisch. Es ist für Netanjahu nur konsequent und spiegelt die Kontinuität des Programms seiner Regierung wider. Von Anfang an hat man sich von Trump inspirieren lassen, von seiner Art des politischen Massakers.
taz: Angriffe auf Justiz und Medien, ein Premier vor Gericht, kein Ende des Krieges in Sicht – all das führt zu einer politischen Verzweiflung unter vielen Israelis. Das Israel Democracy Institute untersucht, wie optimistisch Bürger hinsichtlich der Zukunft der israelischen Demokratie sind. Es zeigt sich ein Abwärtstrend: Nur noch 36 Prozent sind optimistisch. Sind Sie es?
Scheindlin: Nein. Es gibt das Potenzial und die Werkzeuge, um sich als Land in eine demokratischere Richtung zu entwickeln, um vielleicht sogar die Demokratie in Israel grundlegend wieder aufzubauen. Das größte Werkzeug dabei ist die Zivilgesellschaft, die seit dem 7. Oktober sehr aktiv gewesen ist. Aber ich sehe momentan nicht, wie dieser Prozess auf politischer Ebene in Gang gesetzt werden würde. Und die nächste Wahl soll erst Ende 2026 stattfinden. Fast zwei Jahre sind für mich zu weit im Voraus, um zu wissen, wie die Ergebnisse aussehen werden. Gleichzeitig heißt das Problem nicht nur Benjamin Netanjahu.
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