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Der gar nicht so unglaubliche Krieg

In der Ukraine und anderen früheren sowjetischen Gebieten leben viele Menschen, deren Familiengeschichten vom NS-Terror und vom Stalinismus geprägt wurden – und nun von Russlands Aggression

Illustration: Anna Che

Von Ljudmyla Sljessarjewa

Uns, die wir zu Friedenszeiten in der damaligen Sowjetunion geboren wurden, erschien Krieg als etwas Unglaubliches. Wie ein unwirkliches Schauermärchen, das niemals Platz finden sollte in unserem kindlichen, später erwachsenen Leben.

So dachten wir, obwohl in vielen Familien die Eltern einst als Kinder oder die Großeltern einst als junge Leute noch selbst den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten, den man in der Sowjetunion „Großer Vaterländischer Krieg“ nannte. Und obwohl um uns herum Radio, Fernsehen, Kino, Schulbücher und sogar Ferienlagerspiele voll waren mit Kriegsthemen. Oder vielleicht auch gerade deswegen.

In meiner Kindheit wurde in meiner Familie nur selten über den Krieg gesprochen. Doch einmal erzählte mir meine Mutter, wie sie als junge Zwangsarbeiterin in Stettin mit einem anderen Mädchen oft zum Hafen ging, um eimerweise Fischabfall zu holen. Das war überlebenswichtig für ihre Pflegeeltern und die anderen Zwangsarbeiter, mit denen sie in der Ziegelfabrik schwer schuften musste. Ich verstand, wie meine Mutter schon als Mädchen versucht hatte, ihre Nächsten zu unterstützen. Das zeichnete sie ihr ganzes Leben aus.

Ich wusste, dass die Großväter vieler Gleichaltriger im Zweiten Weltkrieg gekämpft und sogar Orden bekommen hatten. Also fragte ich meine erwachsenen Verwandten, ob einer meiner Opas an der Front gewesen war. „Nein“, hieß es kurz, „aus unserer Familie hat niemand gekämpft.“ Erst später verstand ich, warum. Da war ich etwa sieben Jahre alt. Von einem Kind in unserem Hof schnappte ich den Propagandaspruch auf:

„Ehrliches Wort – roter Stern. Opa Lenin und Stalin sehen Betrug nicht gern.“

Das war so leicht zu merken. Also kam ich nach Hause und zitierte es vor meinem Vater. Er antwortete verwundert: „Und weißt du denn, wer dieser Stalin ist?“ Ich wusste es nicht.

Lenin wurde in meiner Kindheit zur Ikone stilisiert. Im Kindergarten lernten wir Gedichte über den Revolutionsführer, in der Schule schrieben wir Referate und bastelten Alben. Über Stalin aber, dessen Personenkult schon vor meiner Geburt geendet hatte, hörte ich praktisch nichts. Also erklärte mir mein Vater, dass dieser Diktator einer der größten Massenmörder des 20. Jahrhunderts war, und er erzählte mir vom Großen Terror und dem Gulag.

Ich erfuhr, dass beide Familien meiner Eltern Opfer der Repressionen geworden waren. Mark, mein Opa väterlicherseits, war ein hochgebildeter Mensch, aber starb 1943 mit nicht einmal 40 Jahren unter ungeklärten Umständen im Gulag. Iwan, mein Opa mütterlicherseits, wurde in der Hochzeit des Stalinschen Terrors 1937 vom NKWD erschossen. Meine Oma Praskowija musste als Ehefrau eines „Volksverräters“ acht Jahre im Lager verbringen. Und meine Mutter, damals sieben Jahre alt, wurde in ein Heim für „Verräterkinder“ gesteckt. Von dort wurde sie von ihrer Tante Olena und ihrem Onkel Marcel gerettet, die sie als liebevolle Pflegeeltern aufnahmen. Bis die nächste schwere Herausforderung kam: der Zweite Weltkrieg, die deutsche Besatzung und die Verschleppung zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich.

So schrieben sich zwei verbrecherische Ideologien in unsere Familiengeschichte ein: Stalins Totalitarismus und Hitlers Nationalsozialismus.

Das erste ehrliche Buch über den Zweiten Weltkrieg, das mich zutiefst erschütterte, war der dokumentarische Roman „Babij Jar“ von Anatolij Kusnezow – eine Chronik des Lebens, genauer des Überlebens im besetzten Kyjiw. Zentrales Ereignis ist die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die Deutschen in Babyn Jar. Diese eilig gefertigten Aufzeichnungen eines 13-jährigen Jungen, später als Erwachsener ergänzt, standen in krassem Gegensatz zu den sowjetischen Heldenmythen über den Krieg. Kein Wunder, dass der Autor aus der UdSSR ausgewiesen wurde und 1979 bei einem nie aufgeklärten Unfall in London starb.

Als Kusnezows Buch erschien, zur Zeit des politischen Tauwetters Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre, wurde auch zum ersten Mal über die ins Deutsche Reich deportierten Zwangsarbeiter gesprochen. Die „Ostarbeiter“ organisierten sich. Mitbegründerin einer solchen ukraineweiten Organisation war meine Mutter. Ihre Mission war es, das von ihrer Generation Erlebte für die nachfolgenden zu bewahren. Daraus entstand die Bücherreihe „Erinnern für die Zukunft“ mit Zeitzeugenberichten über die deutsche Besatzung und die Zwangsarbeit, aber auch über die schreckliche Wirklichkeit des ­sowjetischen Alltags wie Holodomor und Repressionen.

Aus diesen Berichten lernte ich, dass für die damals jungen Zwangsverschleppten der Krieg 1945 nicht zu Ende war. Er dauerte für sie noch weitere Jahrzehnte und bestimmte ihr gesamtes weiteres Leben. Denn nach ihrer Rückkehr wurden sie von sowjetischen Behörden des Verrats verdächtigt, ihre Chancen auf Bildung und Karriere waren eingeschränkt. Nur wenige konnten diese Widerstände überwinden, meine Mutter gehörte zu diesen Glücklichen. Mit ihrem starken Willen wurde sie, aller Stigmatisierung ihrer Biografie durch die Regime Stalins und Hitlers zum Trotz, eine erfolgreiche Wissenschaftlerin und leitete sogar eine eigene Forschungsgruppe.

Ich weiß, dass es auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion Millionen solcher Familiengeschichten gibt, die von diesen zwei Diktaturen geformt wurden. Ich denke, aus diesem Grund stimmten beim ukraineweiten Referendum 1991 mehr als 90 Prozent der Menschen für die Unabhängigkeit des Landes. Und das ist auch die Basis für den unerbittlichen ukrainischen Widerstand gegen Russlands Aggression in der Gegenwart. Wir Ukrainer wollen keine Rückkehr zu Diktatur und Gulag, wie Putin sie in seinem Staat formiert und in der Welt verbreiten will.

Tatsächlich war jener Krieg, der uns immer so unglaublich und unmöglich erschien, doch die ganze Zeit da. Wir haben ihn nur nicht bemerkt, solange er nicht in unseren Vorgarten kam.

Ljudmyla Sljessarjewa ist ukrainische Journalistin, Mitglied des Journalistenverbandes und Polnisch-Übersetzerin. Sie unterstützt das von ihrer Mutter Nadija Sljessarjewa gegründete „Frauenzentrum Nadija“ („nadija“ heißt übersetzt auch Hoffnung), das sich mit der internationalen Aufarbeitung von Schicksalen ukrainischer Zwangsarbeiterinnen beschäftigt.

Nadija Sljessarjewa hatte in Dnipro die deutsche Besatzung erlebt und war zur Zwangsarbeit ins damals deutsche Stettin verschleppt worden. Sie starb am 31. Dezember 2023 in Deutschland, das nun ihr Zufluchtsort vor Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine geworden war.

Ausführlich beschrieben ist die Geschichte von Nadija Sljessarjewa in Folge 4 der Scroll-Doku „Der Krieg und seine Opfer“: „Unter Zwang“ https://war.dekoder.org/de/unter-zwang

Ich erinnere mich an die schrecklichen Bilder der Bombardierungen in Tschetschenien, an das dem Erdboden gleich gemachte Grosny … und an das Schweigen der internationalen Gemeinschaft. Ich erinnere mich an 1994, als die Ukraine unter internationalem Druck ihre Atomwaffen abgab. Für viele von uns – und auch für unsere polnischen Freunde – war das ein alarmierendes Zeichen, denn es zeigte die schwächer werdende Verteidigungsfähigkeit unserer Region. Aber die internationale Gemeinschaft redete den ukrainischen Politikern ein, dass man – ganz im Gegenteil – damit die Sicherheit stärke. Kaum zehn Jahre später kam es zum ersten russischen Angriff auf die ukrainische Insel Tusla. Wiederum gute zehn Jahre später zur Annexion der Krim.

Und nun der 24. Februar 2022: die vollumfängliche Invasion. Russland beschießt Kyjiw und Städte in der ganzen Ukraine. Wir hören die Explosionen. In der zweiten Kriegsnacht weckt mich ein heftiger Schlag, aus dem Fenster sehe ich eine riesige rote Flamme, die mir das Blut gefrieren lässt. In wenigen Tagen ist unser Wohnblock fast leer. Wir tun uns schwer, mit der Entscheidung wegzufahren. Besonders meine Mutter will ihr Zuhause nicht verlassen. Aber meine Schwester hat vor zwei Monaten ein Kind bekommen. Das war nun das Hauptargument für unsere Flucht.

Meine Mutter hätte nie gedacht, dass sich das Grauen, das sie schon als Kind im Krieg erlebt hatte, für sie wiederholen würde. Und dass es sie wieder nach Deutschland treiben würde. Nur diesmal nicht zur Ausbeutung, sondern für Hilfe und Schutz.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Peggy Lohse

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