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Diskurs und Anstand

Der Soziologe Richard Sennett erkundet in seinem neuen Buch die performative Dimension des Politischen und deren Wirkung

Von Jens Kastner

Seine Karriere begann er als Musiker. Im Theater war er auch kein Fremder, bevor er sich mit philosophischer Sprechakt- und soziologischer Rollentheorie vertraut machte. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass das neue Buch des US-amerikanischen Soziologen Richard Sennett von einem tiefen Vertrauen in die Macht der Künste getragen ist. Ungewöhnlich ist vielleicht nur die Ambivalenzfreiheit des Plädoyers, mit dem das Buch beginnt: Wir sollten Kunst schaffen, fordert Sennett, die „moralisch gut ist“.

Nachvollziehbar ist das allemal. Angesichts des Verfalls der öffentlichen Debatten in sozialen Medien und des globalen Aufstiegs der Ultrarechten wird die alte Hoffnung auf die zivilisatorische Kraft künstlerischen Schaffens mobilisiert, dient die Kunst als Ausgangspunkt für ein Leben in Würde.

Richard Sennett: „Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik“. Hanser Verlag, Berlin 2024, 288 Seiten, 32 Euro

Sennett gehört zu den renommiertesten So­zio­lo­g:in­nen der Gegenwart, seine Bücher „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ (1977) und „Der flexible Mensch“ (1998) sind Bestseller und weit über Soziologieseminare hinaus verbreitet. Auch als Stadtsoziologe hat er sich einen Namen gemacht. Schon in „Der flexible Mensch“ hatte Sennett sich mit der Theatertheorie des Aufklärers Denis Diderot auseinandergesetzt und gegen diesen argumentiert, dass die Tätigkeit der Schauspielenden keine gewöhnliche Arbeit sei. Anders als handwerkliche und erst recht industrielle Routinen, sei die Schauspielerei zugleich durch Disziplin und Selbstbestimmung gekennzeichnet.

Die Idee des selbstbestimmten Lebens entsteht überhaupt erst in der europäischen Renaissance, führt Sennett in seinem aktuellen Buch aus. Seitdem, zeigt er mit Pico della Mirandola auf, ist die Selbstinszenierung Teil jeder Identitätskonstruktion. Aber das Spielen und Schauspielen ist „ethisch zweideutig“. So wird etwa die Rollendistanz nach Machiavelli vom Fürsten genutzt, um die Untertanen zu manipulieren. Sie kann aber laut Sennett auch ein emanzipatorisches Mittel sein, um „neue Erfahrungen und neue Identitäten zu erproben“.

Angesichts des Verfalls öffentlicher Debatten dient die Kunst als Ausgangspunkt für ein Leben in Würde

Wenn auch die Performances immer wichtiger werden als die politischen Inhalte, gibt es doch unterschiedliche Gebrauchsweisen des Schauspiels. Trump ist kein Machia­vellist. Während der Fürst nach dem Konzept des Renaissance-Theoretikers zwar auch mittels seiner Auftritte manipuliert und polarisiert, wechselt er seine Masken beliebig je nach Zweck. Trumps Performance hingegen ist authentisch, er glaubt selbst an seine wenig variablen Darbietungen. Dennoch steht er in der Tradition Ludwigs XIV., dem die Kunst schon zur Erzeugung von Charisma diente.

Ob dieses Charisma eher eine maskulinistische Attitüde ist oder geschlechtsneutral funktioniert, interessiert Sennett leider überhaupt nicht. Geschlechterpolitiken tauchen im ganzen Buch nicht auf, obwohl schließlich die moderne Performancekunst ohne feministische Künstlerinnen ebenso wenig zu denken ist wie die Performancetheorie ohne feministische Autorinnen. Und Sennett durchkämmt schließlich nicht nur die Diskursgeschichte der Darbietung, sondern verfolgt sie auch in ihrer Wirkung auf die Rezipient:innen, oder überhaupt auf die Verhältnisse zwischen Produktion und Rezeption.

Dass in Sennetts Rekonstruktionen auch weder die Ar­bei­te­r:in­nen­be­we­gung noch andere organisierte soziale Bewegungen eine nennenswerte Rolle spielen – von wenigen Seiten zum Marsch auf Washington 1963 abgesehen –, ist erstaunlich. Es stellt sich nicht nur die Frage, wieso er etwa beim Thema Masken beim florentinischen Karneval verbleibt und nicht zu zeitgenössischeren Formen der Maskierung vordringt, wie bei Autonomen oder Za­pa­tis­t:in­nen. Auch bleiben die Antriebskräfte der politischen Performances und ihre Mittel und Effekte im Verborgenen. Als Motoren der Darstellungsentwicklung tauchen auch die kulturellen Avantgarden kaum auf. Auch wenn der Untertitel „Kunst, Leben, Politik“ anderes vermuten ließe, denn schließlich waren es die avantgardistischen Künstler:innen, die alle drei Dimensionen der Existenz miteinander vermitteln und versöhnen wollten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Sennetts Essay auch von anderen soziologischen Zeitdiagnosen, in denen bereits die gegenwärtige Kunstwerdung des Lebens im Mittelpunkt stand, wie etwa in Zygmunt Baumans „Wir Lebenskünstler“ (2009) und Andreas Reckwitz’„Die Erfindung der Kreativität“ (2012).

So hat Richard Sennett zwar ein sehr gelehriges Buch geschrieben. Aber auch ein ausschweifendes, das zugleich vieles auslässt und zu selten zum Punkt kommt. Und wenn, dann lassen diese Punkte einen manchmal kopfschüttelnd zurück. Das gilt auch für das zentrale Motiv des Textes, das Vertrauen auf die Kunst. Moralisch kann sie wirken, erklärt Sennett schließlich, indem sie zu zivilisierten Umgangsformen auch im Alltag anstiftet. In Zeiten der Täuscher mit ihren polternden Performances scheint die ganze Utopie eines besseren Lebens darauf zusammenzuschrumpfen, freundlich zu anderen zu sein – als Akt „zivilisierten Anstands“.

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