Geflüchtete Jesidin anonym in Köln: Leben wie auf Pause gestellt
Die Jesidin Zilan floh aus dem Irak nach Deutschland. Ihr droht Abschiebung, doch mithilfe von „Bürger:innenasyl“ kommt sie anonym in einer WG unter.
Zilan ist aus dem Irak geflohen. Dort hat der „Islamische Staat“ vor rund 10 Jahren einen Völkermord an der jesidischen Bevölkerung begangen. 5.000 bis 10.000 Jesid:innen wurden nach Angaben der UN getötet, rund 7.000 verschleppt. Viele von ihnen wurden Opfer von sexueller Gewalt, noch immer ist die Lage im Irak schwierig.
Zilan lebt seit fast fünf Jahren hier, spricht fließend Deutsch. Trotzdem muss sie sich verstecken, ihre Abschiebung nach Rumänien droht. „Ich habe einen großen schwarzen Koffer, da sind all meine Sachen drin. Ich packe ihn nie richtig aus, falls ich schnell weg muss“, sagt die 28-Jährige.
Zwischen Januar und September 2024 wurden in Deutschland 14.706 Personen abgeschoben, 4.417 davon ins EU-Ausland – rund 22 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Asylrechtsverschärfungen der letzten Monate – von GEAS-Reform über „Rückführungsverbesserungsgesetz“ bis „Sicherheitspaket“ – erhöhen den Druck auf Asylsuchende massiv, Schutzräume werden unsicherer. Seit Februar dürfen Polizeibeamt:innen Räume von Unbeteiligten, die in Sammelunterkünften leben, auch ohne richterlichen Beschluss durchsuchen.
Nachteile von Kirchenasyl
Im November 2024 wurde eine 28-jährige Türkin mit ihren beiden Kindern aus einem Hamburger Frauenhaus abgeschoben, in dem sie Schutz vor ihrem Ex-Partner gesucht hatte. Auch evangelische und katholische Gemeinden können Abschiebungen nicht mehr zuverlässig verhindern.
Das Kirchenasyl galt lange als sicherer Hafen für Asylsuchende, die rechtlich keine Möglichkeit haben, ihre Abschiebung abzuwenden. Thomas Groß ist Rechtswissenschaftler und forscht an der Universität Osnabrück am interdisziplinären Institut für Migrationsforschung. Er sagt der taz: „Der Nachteil des Kirchenasyls ist, dass die Behörden meistens wissen, wo sich die Menschen aufhalten.“ Die Kirche werde von behördlicher Seite nicht mehr als genereller Schutzraum anerkannt. In den letzten Monaten wurden mehrfach Fälle bekannt, bei denen Menschen aus dem Kirchenasyl abgeschoben wurden.
Groß ergänzt: „Durch immer härtere Asylrechtsreformen wird der Schutz durch die Zivilgesellschaft wichtiger.“ Abschiebungen in europäische Drittstaaten zu stoppen, sei mit hohen rechtlichen Hürden verbunden. So sollen etwa die sogenannten Dublin-Fristen im Rahmen der GEAS-Reform verlängert werden. Asylsuchende, die in einem EU-Drittstaat registriert sind, könnten in Zukunft noch 36 Monate nach Einreise in Deutschland in diesen Staat abgeschoben werden. Bisher lag die Frist zwischen sechs und achtzehn Monaten.
Die Alternative: Bürger:innenasyl
Die 2019 gegründete Initiative „Bürger:innenasyl“ schafft eine Alternative: Menschen, die keine Rechtsmittel gegen ihre Abschiebungen einlegen können, unter einer solchen aber besonders leiden würden, werden in Privathaushalten versteckt. Dadurch, dass ihr Wohnort geheim gehalten wird, können Behörden sie erst mal nicht abschieben. Einer der Kölner Mitinitiatoren, Jan Henkel, sitzt in einem Café mit zusammengewürfelter Einrichtung in Köln-Ehrenfeld. Der 64-Jährige trägt langes graues Haar und nippt an einem Tee. „Was wir da machen, ist ein Akt des Widerstands gegen die Unmenschlichkeit in der Asylpolitik“, sagt er.
Der gelernte Elektrotechniker lächelt, wenn er von dem „fröhlichen Pragmatismus“ spricht, durch den sich die Idee des Bürger:innenasyls auszeichnet. Die Initiative, erzählt er, kläre organisatorische und rechtliche Fragen, sammle Spenden und suche Möglichkeiten für die Unterbringung. Alles andere laufe wie von selbst. „Der ganz akute Druck lässt dann erst mal nach“, sagt er.
Die Asylsuchenden müssten keine Angst mehr haben, nachts um fünf aus einer Sammelunterkunft abgeschoben zu werden, könnten ein wenig durchatmen. Das Kirchenasyl sei eine gute Sache, reiche aber längst nicht mehr aus. „Das Netzwerk Asyl der Kirchen in NRW bekommt täglich 20 Anfragen fürs Kirchenasyl.“ Ein paar könnten zwar aufgenommen werden. „Der Rest fällt hinten runter. Man kann schon sagen: Das ist eine Triage, die da stattfindet.“
Aktuell, so Henkel, werden neun Menschen in Köln über die Initiative in Privathaushalten versteckt, seit Gründung der Initiative 2019 seien es 57 gewesen. Bundesweit, so schätzt Henkel, wurden bisher zwischen 400 und 500 Abschiebungen durch die Initiative verhindert.
Zilan: „Mittlerweile bin ich müde.“
Zilan erzählt von ihrem Leben im Versteck, kocht zwischendurch Tee und Kakao, lässt nebenbei melancholische Lieder in arabischer Sprache von Ali Halem laufen. Wenn ihr eine Textzeile gut gefällt, übersetzt sie sie. „Ich bin alleine, es ist ungerecht, dass ich so leben muss, in meinem Herzen sind viele Dinge, die niemand verstehen kann“, lautet ein Vers. Als sie nach Deutschland kam, habe sie große Ziele gehabt. „Mittlerweile bin ich müde.“ Jeden Tag habe sie mithilfe von Youtube-Videos Deutsch gelernt, sich selbstständig einen Kurs gesucht und stundenlang geübt. Eine Chance auf einen dauerhaften Aufenthaltstitel hat sie trotzdem nicht.
Zilans Reise nach Europa verlief über Rumänien. In einer Sammelunterkunft, in der sie vier Monate lebte, habe sie sexualisierte Gewalt erfahren, erzählt Zilan. Eine Person, die viel Einfluss auf ihr Asylverfahren hatte, habe seine Machtposition ausgenutzt und sexuelle Gegenleistungen von ihr gefordert. Um wen genau es sich handelt, möchte Zilan nicht öffentlich machen.
Die Situation in Rumänien sei extrem belastend gewesen. „Kein Geld, keine Arbeit, keine Unterstützung. Das war kein Ort, um ein neues Leben zu beginnen.“ Insgesamt 15 Mal sei sie in Rumänien von der Polizei aufgegriffen worden, sagt Zilan. „Beim letzten Mal wurde ich gedrängt, einige Papiere zu unterschreiben. Ich habe nicht verstanden, worum es ging.“
Erst später sei ihr klar geworden, dass sie eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bekommen hatte. Das disqualifiziert sie für ein Asylverfahren in Deutschland. Die Dublin-Frist, die normalerweise nach sechs Monaten abläuft, greift im Fall von Zilan nicht. „Ich habe viermal den Anwalt gewechselt – rechtlich lässt sich nichts machen“, sagt sie. Das Bürger:innenasyl sei im Moment die einzige Option.
Miete für WG-Zimmer ist spendenfinanziert
Wenn Zilan einkaufen geht, schaut sie sich ständig um. Wenn sie in der Straßenbahn in eine Fahrkartenkontrolle gerät, hofft sie, dass niemand nach ihrem Ausweis fragt. Wenn doch: Herzklopfen, kalter Schweiß, Ausreden suchen. Auch wenn sie Polizeibeamt:innen sieht, bekommt Zilan Panik. „Ich musste erst lernen, nicht wegzurennen, wenn ich einen Streifenwagen sehe“, sagt sie. Bei Arztbesuchen ist Zilan auf ehrenamtliche Angebote angewiesen. Medizinische Versorgung für Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus wird in Köln durch die „Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung“ bereitgestellt.
Mit zehn Mitbewohner:innen lebt Zilan nun seit rund sechs Monaten zusammen, vorher hatte sie in einer anderen WG Unterschlupf gefunden. Einer von ihnen ist Michael*, auch sein echter Name darf nicht in der Zeitung stehen. Er ist groß, hat seine Haare auf der einen Seite abrasiert und trägt sie auf der anderen Seite lang. Der 29-jährige Sozialarbeiter und Klimaaktivist ist nachdenklich. Vor jedem Satz überlegt er, wie er ihn am besten formuliert. Dass er und die WG Zilan vor einer möglichen Abschiebung schützen, bezeichnet er als „passive Notwendigkeit“.
Dass das überhaupt nötig sei, als „himmelschreiende Ungerechtigkeit“. Kosten seien damit nicht verbunden, die Miete von Zilans Zimmer ist spendenfinanziert. Auch vor möglicher Strafverfolgung habe hier niemand Angst, sagt Michael. „Für uns war sofort klar, dass wir Zilan aufnehmen.“
Vorsichtsmaßnahmen, wenn die Tür klingelt
Rechtswissenschaftler Thomas Groß sagt: „Ob Privatpersonen, die Asylsuchenden Schutz gewähren, strafrechtlich verfolgt würden, hängt stark von den Umständen des Einzelfalls ab.“ Bisher würden die Menschen, die sich verstecken, als primäre Straftäter:innen behandelt. Ihnen können zusätzlich zur Abschiebung Geld- oder Freiheitsstrafen drohen. Menschen, die Bürger:innenasyl gewähren, würden dagegen zumindest nicht in größerem Umfang strafrechtlich verfolgt, sagt Groß.
2021 hatte es in Münster und Aschaffenburg Verfahren gegen Aktivist:innen gegeben, die zum Schutz durch Bürger:innenasyl aufgerufen hatten. Beide Verfahren endeten mit einem Freispruch. „Wenn der politische Druck, mehr Abschiebungen durchzuführen, aber weiterhin so hoch bleibt, wird der polizeiliche Fahndungsdruck früher oder später steigen“, so Groß.
Schon jetzt haben Michael, Zilan und ihre Mitbewohner:innen Vorsichtsmaßnahmen getroffen. „Wenn jemand unangekündigt an der Tür klingelt, machen wir nicht auf“, sagt Michael. Zu groß sei die Gefahr, dass die Behörden von Zilans Versteck Wind bekämen. Nur der engste Freundeskreis weiß Bescheid. Wenn sie zusammen draußen unterwegs sind, sagt Michael, schwinge immer die Angst mit. Öffentliche Plätze, an denen anlasslose Personenkontrollen durchgeführt werden, Bahnhöfe zum Beispiel, würden sie meiden. Trotzdem: Dass etwas passiere, sei ziemlich unwahrscheinlich. „Das Problem ist, dass es für Menschen wie Zilan kaum Perspektiven gibt, ihr Versteck irgendwann zu verlassen“, so der 29-Jährige.
Jan Henkel vom „Bürger:innenasyl“ blick etwas optimistischer in die Zukunft. „Wir sind zwar in den letzten Jahren immer mehr in die Defensive geraten. Aber das letzte Wort ist nicht gesprochen“, sagt er. Trotz drastischer migrationspolitischer Verschärfungen sei ein Diskurswandel möglich. „Das Bürger:innenasyl ist zumindest ein Anfang.“
Zilan rührt im Kakao und zeigt ein paar Bilder von ihrer Familie auf dem Handy. „Mein Leben steht auf Pause“, sagt sie. Mit jedem Tag, der im Versteck vergeht, falle es ihr schwerer, hoffnungsvoll zu bleiben. „Ich bin ein Mensch, ich habe einen Namen, und ich habe genug davon, mich zu verstecken.“
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