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Keine Heimat

Unser Autor wuchs in Harsewinkel auf. Ein Ort in Nordrhein-Westfalen, aus dem auch Alice Weidel kommt. Auf seine Zeit dort blickt er mit einem zwiespältigen Gefühl zurück und fragt sich, welche Spuren eine Jugend auf dem Land hinterlässt

Mitten in der ostwest­fälischen Flachebene liegt „Harsewinkel – Die Mähdrescherstadt“ Foto: Gunter Kloetzer/laif

Von Tobias Siebert

Wenn mich jemand fragt, wo ich herkomme, erkläre ich umständlich, dass die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, zwischen Bielefeld und Münster liegt, mitten in der ostwestfälischen Flachebene, eingesäumt von Wiesen, Wäldern und Feldern. Wie fast überall in dieser Gegend gibt es eine Handvoll Supermärkte, Häuser aus rotem Klinker, gemachte Vorgärten, Kirchen und Moscheen, Schützenfeste, zerrüttete Familien, ein paar Verkehrstote jedes Jahr, Bauernhöfe, rund 26.000 Einwohner:innen, eine schlechte Busverbindung und ein Schwimmbad sowie einen Friedhof.

Einmal im Jahr wird sich an Karneval die Seele aus dem Leib gesoffen. Und ansonsten findet sich auch in jeder anderen Woche ein Anlass, sich den Helm zu lackieren. Aus drei Ortsteilen setzt sich diese durchschnittliche Stadt zusammen. Verbunden werden sie über die Bundesstraße 513. Dort rauschen die motorisierten Fahrzeuge tagein, tagaus über den Asphalt und entlang der grün-weißen Landmaschinenfabrik, die dieser Ort zu seinem Markenzeichen auserkoren hat. Seit 2013 prangt ganz offiziell und unmissverständlich auf den gelben Ortsschildern: „Harsewinkel – Die Mähdrescherstadt“.

20 Jahre habe ich an diesem Ort gelebt, länger als bislang überall anders, und hatte dabei eine Jugend auf dem Land, wie sie im Buche steht: stundenlange Ödnis mit Erdnussflips vorm Fernseher, todschlechtes Internet, auf dem Rückweg von der meilenweit entfernten Party mit dem Fahrrad „Fürst Uranov“ (ein Wodka; Anm. d. Red.) kotzend im Straßengraben landen, untröstlichen Teenage­liebeskummer und Freundschaften, die ein Leben lang bestehen werden.

Doch trotz all der flirrenden Erinnerungen und einer behüteten Kindheit kommt mir, um diesen Flecken Erde zu beschreiben, das Wort Heimat nur schwer über die Lippen. Zu ambivalent ist mein Verhältnis zu diesem Ort, als dass ich befreit darüber fühlen könnte. Schon früh wusste ich, dass ich in Harsewinkel nicht bleiben werde. Zu leise, zu eng, zu weit weg von allem. Ich wollte raus in eine Welt, die nicht gleich hinter der Fleischerei Windau aufhört.

Wenn ich ehrlich bin, waren es zu der Zeit vor allem die schwitzigen Live-and-Loud-Konzerte im Keller der evangelischen Kirche und die kleinen Punkshows in der Musikkneipe Muck eine Kleinstadt weiter, die dem pubertären Le­ben Spaß, Wärme und Aufregung einhauchten. Mit Fußball und Landjugend konnte ich herzlich wenig anfangen, denn nach der Schule noch auf die Peiniger vom Pausenhof zu treffen, die einen mit den üblichen Beleidigungen wie „Zwitter“ und „schwul“ überzogen, war nicht die erste Wahl meiner Freizeitbeschäftigung. Ich verbarrikadierte mich, lud haufenweise illegal Musik herunter und verschwand, noch bevor ich Harsewinkel körperlich verließ, in den Songs.

Nun bin ich bei Weitem nicht der einzige verzweifelte Teenager gewesen, der die Flucht von der Provinz in die Großstadt ergriffen hat. Tausende Bücher, Songs und Filme erzählen immer wieder diese eine Geschichte des Weggehens.

Was bislang aber kaum erzählt wurde, ist die Geschichte der jungen Alice Weidel, der ersten Kanzlerkandidatin der AfD, die einige Jahre vor mir ausgerechnet in Harsewinkel ebenfalls ihre Kindheit und Jugend verbrachte, 1998 zum Studium nach Bayreuth abhaute und heute in einer lesbischen Partnerschaft mit einer Frau aus Sri Lanka in der Schweiz lebt.

Im merkwürdigen Gegensatz zu ihrer Biografie verteidigt Weidel den deutschen Heimatbegriff bis aufs Blut. Die sonst so redselige Politikerin spricht allerdings nur äußerst selten über ihr eigenes Aufwachsen, und wenn, um Angst zu schüren. So erzählte sie 2023 in einem Podcast, Harsewinkel sei in ihrer Jugend völlig überfordert von „fremden Kulturen“ gewesen. 2024 verschlug es sie zu einem Besuch dorthin, auf Instagram posierte sie fröhlich mit dem örtlichen AfD-Politiker und Reichsbürger Udo Hemmelgarn. Dazu ganz ohne Bauchschmerzen der Hashtag Heimat.

Dass aus einer Jugend auf dem Land nur ein heimattreues und rechtes Denken entwachsen kann, stimmt natürlich nicht und wäre gegenüber den Menschen, die ihr Leben abseits großer Städte verbringen, unfair zu behaupten. Aber warum redet die Vorsitzende einer so heimatverehrenden Partei eigentlich so wenig über ihre eigene Herkunft?

Vielleicht, um sich nicht mit ihrer eigenen Familie auseinandersetzen zu müssen? Zum Beispiel mit ihrem Großvater und SS-Militärrichter Hans Weidel, der mit seinen Kollegen über 50.000 Todesurteile fällte, von denen rund 20.000 vollstreckt wurden und der später seine Verbindungen zum NS-Regime leugnete. Weidel war zwar erst sechs Jahre alt, als ihr Nazi-Opa starb. Aber warum kann man eigentlich nicht aus der eigenen Familiengeschichte lernen?

Bei mir war es die Geschichte meines Vaters, die eine gesunde Skepsis gegenüber dem deutschen Nationalstolz in mir wachsen ließ. 1996, als ich drei Jahre alt war, starb er an den Folgen seiner Alkoholkrankheit. Geboren wurde er 1929 in der Nähe von Kaliningrad, mit 10 Jahren kam er zur Hitlerjugend und nach dem Krieg verbrachte er mehrere Jahre in sowjetischer Gefangenschaft. Ich habe nicht viel von ihm, aber ein paar Seiten Papier, auf denen er seine Jugendjahre schildert und die voll von Grauen, Tod und Gewalt sind.

Die Erfahrungen konnte er selbst nie ganz verarbeiten und griff wie so viele zum Alkohol. Seit Jahren begleitet mich eine tiefsitzende Scham, die mich nur äußerst selten darüber sprechen lässt und die seit der Jugend dafür sorgt, dass ich während der großen Fußballereignisse für jedes mit Deutschlandfahnen verunstaltete Auto nichts als Verachtung übrig habe, ebenso wie für die sicher ganz harmlos gemeinten „Sieg Heil“-Rufe beim Public Viewing in der Bauernscheune und die nur zum Spaß an die Schulfenster geschmierten Hakenkreuze.

In einem regional bekannten Karnevalsschlager heißt es: „Die Mädchen aus Harsewinkel, die sind nicht so, die sind nicht so bescheuert“. Und ich frage mich, wie aus dem Mädchen Alice Weidel eine so Hass schürende und geschichtsvergessene Person werden konnte? Was hat die ländliche Langeweile mit ihr gemacht? Wo konnte diese grauenhafte Vaterlandsliebe trotz Nazi-Opa ihren Anfang nehmen?

Und welche Songs haben die Drum ’n’ Bass liebende Weidel dabei geprägt? Denn zur Wahrheit gehört, dass ich ohne die Musik damals durchgedreht wäre, dass es zunächst ein paar wenige Songs, Bands und Konzerte waren, die den moralischen Kompass in mir kalibrierten und für eine erste Politisierung sorgten. So war das heimliche Saufen, während wir Egotronic hörten und „Raven gegen Deutschland“ brüllten, zwar einerseits billige Realitätsflucht, aber andererseits auch immer ein Suchen nach Verbundenheit – selbst wenn wir noch nicht von jeder Zeile wussten, was sie bedeutete.

Kurz nach meinem Wegzug aus Harsewinkel erschien 2013 in Stuttgart der großartige Sampler „Von Heimat kann man hier nicht sprechen“

2013, kurz nach meinem Wegzug aus Harsewinkel, erschien in Stuttgart der großartige Samp­ler „Von Heimat kann man hier nicht sprechen“ und verleiht seitdem meinem Unwohlsein gegenüber der eigenen Herkunft einen Namen. Noch heute sind es, aus all den abertausenden Songs, ausgerechnet jene über diesen merkwürdigen Zustand von Heimatfremde, die mir Tränen in die Augen treiben.

Sie geben mir das Gefühl, dass ich nicht alleine damit bin, kein unbeschwertes Verhältnis zum Ort meiner Herkunft entwickeln zu können, trotz all der lauwarmen „Becks Ice“-Erinnerungen am schmalen Ufer der Ems. Und auch wenn es manchmal schwerfällt, nicht in einer verschwommen Jugendnostalgie baden zu gehen, ist es doch gut, so in Anbetracht der aktuellen Lage, in der es breiter Konsens in Deutschland ist, Menschen so schnell es geht, wieder in „ihre Heimat“ abzuschieben.

„Ein Gefühl oder eine Sehnsucht, die sich weit weg entfacht“, schreit die Punkband Freiburg aus einem Harsewinkeler Nachbarort in ihrem Stück „Kotzen, Heulen, Dorfdisco!“ – ich trage dieses Lied schon mein halbes Leben wie eine gut behütete Perle mit mir herum.

Und wenn es nach all den Jahren so etwas wie eine Art von Heimat für mich gibt, dann ist sie irgendwo versteckt zwischen all den Songs, Büchern und Filmen, die sich diesem zwiespältigen Bauchschmerz widmen statt jenem Ort, an dem ich 1993 irgendwo in Deutschland geboren wurde.

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