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Was uns den Atem raubt

Der 7. Oktober 2023, der Fall Pelicot und Magdeburg: Warum das vermeintlich Unmenschliche eben doch etwas sehr Menschliches ist

Illustration: Katja Gendikova

Von Markus Rieger-Ladich

Es gibt Gewalthandlungen, die uns empören, sobald wir ihrer gewahr werden. Und es gibt Gewalthandlungen, die so verstörend sind, dass sie unser Menschenbild radikal infrage stellen. Eine verbreitete Reaktion auf solche Erfahrungen besteht darin, sie zu verdrängen, sie sich gleichsam vom Leib zu halten. Das geschieht etwa dadurch, dass wir die Tä­te­r:in­nen symbolisch aus dem Kreis der Menschen ausschließen. Wir sprechen dann von Unmenschlichkeit und geben damit unseren tief empfundenen Abscheu zu erkennen.

Die Frage, wie Menschen zu derartigen Gewalthandlungen überhaupt fähig sind, ist nicht neu. Sie wurde auch nicht erst am 7. Oktober 2023 laut, aber damals mit besonderer Dringlichkeit gestellt. Die Massaker der Hamas waren von einer solchen Grausamkeit – lange vorbereitet, präzise eingeübt und medial orchestriert –, dass vielen die Worte fehlten, um ihrem Entsetzen Ausdruck zu verleihen. Schon bald wurden die Verbrechen „monströs„genannt – als wären sie von Monstern begangen worden und nicht von Menschen.

Zu ähnlichen Reaktionen kam es, als im Sommer 2024 in Avignon der Prozess gegen Dominique Pelicot und 50 weitere Angeklagte eröffnet wurde. Die Tatsache, dass ein Mann seine Ehefrau über zehn Jahre hinweg nicht nur regelmäßig betäubte und vergewaltigte, sondern sie auch noch über eine Plattform anderen Männern dazu anbot und diese dabei filmte, ließ viele fassungslos zurück. Es waren Männer aus der Nachbarschaft, Vertreter aller Berufsgruppen, Angehörige unterschiedlicher Milieus, Gebildete und weniger Gebildete – solche, die man gemeinhin „ganz normale Männer“ nennt. Wie lässt sich dieses Verbrechen verstehen, wenn man es sich verbietet, die Täter zu dämonisieren, wie es die Boulevardpresse tat, die von „Bestien“ und „Teufeln“ sprach?

Wenige Tage nach Abschluss des Prozesses lenkte Taleb al-Abdulmohsen einen SUV in den Weihnachtsmarkt von Magdeburg. Das Entsetzen über die Amokfahrt wurde noch größer, als bekannt wurde, dass der Täter als Arzt arbeitete. Anders als rasch von Rechts­ex­tre­mis­t:in­nen verbreitet, ist er kein Islamist, sondern ein Islamkritiker, der sich in den letzten Jahren politisch radikalisiert und Kontakt zur AfD sowie der Identitären Bewegung gesucht hat. Auch diese Tat geschah nicht im Affekt. Und ließ ebenfalls viele fassungslos zurück. So schrieb Kurt Kister in der Süddeutschen Zeitung: „Was aber bleibt, ist die Empfindung, dass man nicht ‚verstehen‘ kann, wie jemand am Steuer eines Autos auf einem Weihnachtsmarkt mit Absicht Menschen überfährt, weil er ein ‚Zeichen‘ setzen will.“

Mit Phänomenen dieser Art hatte sich auch schon Helmuth Plessner befasst. Der Philosoph, der den Nationalsozialisten als „Halbjude“ galt und 1952 aus dem Exil zurückkehrte, zeigte sich in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Göttingen als scharfsinniger Beobachter des Zeitgeschehens. Er musste in seinem Vortrag „Über Menschenverachtung“ den Nationalsozialismus nicht namentlich erwähnen: Alle Anwesenden wussten, wovon die Rede war, als er von „Menschenhass“ und Ideologien der „Minderwertigkeit“ sprach.

An diese Überlegungen knüpfte er an, als er 1967 über „Das Problem der Unmenschlichkeit“ referierte. Schon die ersten Sätze ließen aufhorchen: „Mit den Worten Unmensch und unmenschlich sollte man sparsam sein.“ Nicht allein mit der Schoah konfrontiert, sondern auch mit den grausamen Befunden, die His­to­ri­ke­r:in­nen und Eth­no­lo­g:in­nen zusammengetragen hatten, sah auch er sich der Frage gegenüber, die uns gegenwärtig umtreibt: Wie ist es zu erklären, dass Menschen zu solchen Verbrechen überhaupt fähig sind – zu Massakern, Vergewaltigungen, Amokläufen? Anders formuliert: Wie müssen wir den Blick auf unsere Spezies justieren, wenn wir nicht länger die Augen vor diesen Tatsachen verschließen wollen?

Plessners Antwort darauf lautet: Wir müssen die besondere Situiertheit des Menschen berücksichtigen und die eigentümliche „Gebrochenheit“, die daraus resultiert. Im Unterschied zu Tieren sind wir nicht auf einen Lebenskreis beschränkt. Menschen verfügen über keinerlei Zentrum. Wir sind dazu gezwungen, unser Leben ohne den Schutz tierischer Instinkte zu führen. Diese besondere Existenzform nennt Plessner „exzentrische Positionalizät“. Wir verfügen über große Freiheiten, müssen dabei allerdings ohne Absicherungen auskommen. Kurz: Als Mensch sein Leben zu führen gleicht einem Drahtseilakt.

Am Beispiel des Theaters hat Plessner dies erläutert: Beobachten wir die Schau­spie­le­r:in­nen auf der Bühne, werfen wir einen Blick auf den Grund unserer Existenz. Wir Menschen sind nicht zur „Authentizität“ verdammt und können in die Haut einer Figur schlüpfen. Der Schauspieler „ist sein eigenes Mittel, d. h. er spaltet sich in sich selbst, bleibt aber, um im Bilde zu bleiben, diesseits des Spalts, hinter der Figur, die er verkörpert, stehen. Er darf der Aufspaltung nicht verfallen, wie etwa der Hysteriker oder der Schizophrene, sondern er muss mit der Kontrolle über die bildhafte Verkörperung den Abstand zu ihr wahren.“

Das Vermögen, auf Distanz zu sich selbst gehen zu können, ist Segen und Fluch zugleich. Es bedeutet, dass wir von unseren Interessen abstrahieren und diese zurückstellen können. Wir können uns anderer annehmen, uns für Leid und Elend empfänglich erweisen, können uns solidarisch zeigen. Allein – das ist kein Automatismus. Nur eine Fähigkeit. Allzu häufig ignorieren wir die Bedürfnisse anderer oder manipulieren sie. Denn wer eine Rolle zu spielen vermag, kann dieses Vermögen auch strategisch einsetzen. Er kann sein Gegenüber täuschen und betrügen. Wer sich verstellen kann, so Plessner, dem werden „Lüge und Heimtücke zu Instrumenten“.

Foto: privat

Markus Rieger-­Ladich

ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen. Er arbeitet derzeit vor allem zur Analyse und Kritik von Privilegien.

Damit wird nun auch deutlich, dass jene Grausamkeiten, die uns den Atem stocken lassen, gerade nicht das „Unmenschliche“ markieren, sondern auf den Menschen selbst verweisen. Dazu Plessner: „Nur der Mensch kennt kein Maß, nur er wird das Opfer seiner Träume und seiner Konsequenzen. Maßlosigkeit ist das Stigma des Menschen, weil ihm die schützende Führung der Instinkte fehlt.“ Im Unterschied zu Tieren ist der Mensch also nicht davor gefeit, sich in phantasmatische Vorstellungen hineinzusteigern und Ideologien der Ungleichwertigkeit zu entwickeln. Wir allein operieren mit der Unterscheidung in „wertvolles“ und „unwertes“ Leben. Dies, so Plessner, lehre auch der Blick in die Geschichte: „Unmenschlichkeit ist an keine Epoche gebunden und an keine geschichtliche Größe, sondern eine mit dem Menschen gegebene Möglichkeit, sich und seinesgleichen zu negieren.“

Reiner Haseloff, dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, ist daher zuzustimmen, als er in Magdeburg von einer „menschenverachtenden Tat“ sprach. Wir Menschen können uns gegen uns selbst wenden, können die Interessen anderer mit Füßen treten, sie manipulieren und ins­trumentalisieren; wir können die Verletzlichkeit, die uns alle kennzeichnet, ausnutzen, Gewalt systematisch einsetzen und uns zum Richter über andere aufschwingen.

Wirft man nun einen Blick auf die unterschiedlichen Gruppen von Tätern, ist vielleicht am verstörendsten die Einsicht, dass die Suche nach gemeinsamen Persönlichkeitsmerkmalen häufig ins Leere läuft. Für die Terroristen der Hamas lässt sich das noch am einfachsten beantworten: Sie folgten einer Ideologie der Ungleichwertigkeit mit jener tödlichen Konsequenz, die schon Plessner herausgestellt hatte. Anders als die Situation in Magdeburg, die noch kein klares Bild erkennen lässt, ist die Sachlage in Avignon. Hier wurden Männer verurteilt, deren Biografien – soweit man das weiß – keine charakteristischen Verwerfungen aufweisen. Manche von ihnen waren als Kinder selbst Opfer sexualisierter Gewalt. Aber daraus folgt kein Wiederholungszwang. Gemeinsam ist ihnen einzig, dass sie sich ermächtigt fühlten, eine wehrlose, betäubte Frau zu vergewaltigen. Wie lässt sich damit leben?

Schon bald wurden die Verbrechen der Hamas „monströs“ genannt – als wären sie von Monstern begangen worden und nicht von Menschen

Zunächst ist daran zu erinnern, dass Täter kaum einmal isoliert handeln, dass sie ihre Handlungen oft genug für gerechtfertigt halten und keinerlei Reue erkennen lassen. Das war auch beim Prozess in Avignon zu beobachten. Viele Angeklagte zeigten den Frauen dort während der Verhandlungen unverhüllt ihre Verachtung. Hier trat uns, so Bernd Ulrich in der Zeit, das „Patriarchat in Reinform und in voller Größe“ gegenüber.

Es gilt daher jene überkommenen Strukturen vollständig aufzudecken. Sexismus und Misogynie sind nur eine Spielart solcher Ideologien der Ungleichwertigkeit. Diese gilt es noch genauer zu erforschen – und mit der notwendigen Beharrlichkeit zu bekämpfen. Wie das geschehen kann, hat Lea Fauth jüngst in einem Beitrag für die taz skizziert.

Nicht weniger wichtig als diese intellektuelle und politische Arbeit sind Akte der Selbstverpflichtung. Daran erinnerte Jan Philipp Reemtsma just in Magdeburg, als er im vergangenen Jahr über den 20. Mai 1631 sprach, den „blutigsten Tag des dreißigjährigen Mordens“. Er rückte den Abscheu in das Zentrum seines Vortrags und stellte den immensen zivilisatorischen Fortschritt heraus, den dieser bedeute. Hervorgegangen aus dem Ringen, auf die Gewaltexzesse des 17. Jahrhunderts eine Antwort zu finden, führe der Abscheu dazu, dass sich der Einsatz von Gewalt seither legitimieren müsse. Menschheitsgeschichtlich sei dies kaum zu überschätzen: „Zivilisation“ ist „Selbstbindung“. Die Gefühle von „Abscheu und Ekel“ – also genau das, was viele im Gerichtssaal von Avignon empfanden, als sie auf die Täter blickten – zählten daher zum „Kostbarsten, was wir haben“. Der Abscheu ist, so Reemtsma, nichts weniger als „das Fundament unserer zivilisatorischen Sittlichkeit. Verlieren wir ihn, verlieren wir uns.“

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