piwik no script img

„Wir Frauen sollten mit am Tisch sitzen und mit entscheiden“

Die syrische Menschenrechtsanwältin Joumana Seif lebt seit 2012 in Deutschland und hat von hier aus Syrien für die Zeit nach Assad vorbereitet. Nun blickt sie mit Hoffnung in die Zukunft – und mit Sorge

Wollen zurück nach Hause: Syrische Familien warten am Grenzübergang Cilvegozu darauf, nach Syrien zu gelangen Foto: Metin Yoksu/apdpa

Interview Julia Neumann

taz: Frau Seif, das Assad-Regime ist gefallen. Sie haben als Teil der syrischen Zivilgesellschaft seit Jahren auf diesen Moment hin gearbeitet. Wie fühlen Sie sich in diesen Tagen?

Joumana Seif: Ich bin überglücklich, dass wir von diesem Regime befreit wurden. Ich habe aber auch Angst. Ich hoffe, ich irre mich, aber ich fürchte um all die Grundsätze, für die wir wirklich kämpfen: für Gleichheit und Gerechtigkeit, gegen Diskriminierung. Es scheint, als würden die Syrer*innen, die gesamte Zivilgesellschaft, von der Entscheidung ausgeschlossen.

taz: Hajat Tahrir al-Schams (HTS) gestaltet jetzt den Übergang. Aber Sie sitzen nicht am Tisch.

Seif: Hoffentlich wird die Exil-Zivilgesellschaft bald im Lande sein. Ich kenne viele Leute, die sich darauf vorbereiten. Wir müssen vor Ort sein, damit das Gesamtbild klarer wird.

taz: Der Flughafen in Damaskus soll bald öffnen. Planen Sie selbst, nach Syrien zu reisen?

Seif: Ja, sicher. In ein paar Tagen oder Wochen, nicht mehr.

taz: HTS-Anführer Mohammed al-Jolani hat Mohammed al-Baschir, den ehemaligen Premierminister der HTS-Regierung in Idlib, eigenmächtig zum Leiter der Übergangsregierung ernannt.

Seif: Ja, das ist unfassbar! Dafür sind wir, das syrische Volk, nicht auf die Straße gegangen. Wir wollen einbezogen werden. Besonders wir Frauen sollten mit am Tisch sitzen und mitent­scheiden.

taz: Gerade entscheiden die Männer der HTS. Glauben Sie, dass Frauen mit diesen Männern an einem Tisch sitzen können?

Seif: Ja. Ich habe mich noch nie mit einem von ihnen getroffen, um solche Dinge zu besprechen. Aber wir sollten auf jeden Fall daran arbeiten, dass wir bestimmte Dinge und Bedenken mit ihnen besprechen können.

taz: Welche wären das?

Seif: Alle müssen vertreten sein. Wir wünschen uns einen Frauenanteil von mindestens 30 Prozent und echte Technokrat*innen, die das Land führen – nicht die Armee. Eine Armee ist nur dazu da, das Volk und das Land zu schützen.

taz: Sind Sie in Kontakt mit HTS?

Seif: Nein, bisher nicht. Zwar haben einige Kol­le­g*in­nen Bekannte oder Verwandte, die Kämpfer sind. Aber wir sind nicht offiziell als Bewegung in Kontakt.

taz: Glauben Sie denn, die Übergangsregierung wird die Arbeit der Zivilgesellschaft einbeziehen?

Seif: Es ist noch zu früh, das zu beurteilen. Als Momentaufnahme: Bislang sind uns keine Verstöße gegen unsere Werte bekannt. Sie haben versprochen, Minderheiten zu schützen. Ihre Kommunikationsform ist bisher gut. Bei seiner ersten Fernsehansprache hatte al-Baschir eine Flagge im Hintergrund …

taz: Es war eine, die mit sunnitischen islamistischen Gruppen assoziiert wird.

Seif: Ja. Es gab Kritik, beim nächsten Fernsehauftritt war sie weg. Das sind erste gute Zeichen.

taz: In Ägypten und Libyen wurde eine erfolgreiche Revolution von neuen politischen Eliten korrumpiert. Wird das in Syrien anders sein?

Seif: Ich hoffe, dass wir aus diesen Ereignissen lernen konnten. Wir Sy­re­r*in­nen haben unter dem Diktator und dem Krieg sehr gelitten. Ich habe in den letzten Tagen gespürt, dass die Mehrheit sich unbedingt politisch einbringen will.

taz: Es gab bis zum Sturz Assads nur eine Partei. Gibt es Versuche der Zivilgesellschaft, neue zu gründen?

Seif: Nein, bisher gibt es keinen solchen Prozess. Wir diskutieren darüber, aber offiziell liegt noch nichts auf dem Tisch.

taz: Syrische Ju­ris­t*in­nen und Aka­de­mi­ke­r*in­nen haben an einer Verfassung und an Konzepten für den Übergang gearbeitet. Kennt die Übergangsregierung diese Konzepte?

Seif: Das weiß ich nicht. Es ist auch nicht klar, ob sie bereit sind, die von uns entwickelten Konzepte und Ideen wirklich umzusetzen. Wir können sagen, dass wir als Zivilgesellschaft uns auf die Umsetzung der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates von 2015 geeinigt haben. Wir hatten viele Onlinesitzungen, Diskussionen und Workshops dazu.

taz: Was fordert die Resolution?

Seif: Einen politischen Übergang unter syrischer Führung, unter Aufsicht der UN. Die Resolution integriert das Genfer Kommuniqué: Alle Frauen müssen beteiligt werden, der Übergang sollte friedlich verlaufen und es soll eine Institution mit voller Autorität geben, um den Übergang zu leiten. Die Resolution besagt, dass alle Gruppen der syrischen Gesellschaft am Prozess teilnehmen sollen, um das Übergangsgremium zu formen.

taz: Die UN-Resolution schließt die HTS praktisch aus, weil ihre Vorgängerorganisation vom Sicherheitsrat als „terroristisch“ ­eingestuft wurde. Als die Resolution verabschie­det wurde, wurde darin al-Assad als Teil des politischen Übergangs ­behandelt.

Seif: Zu dieser Zeit gab es ein Regime und die Opposition. Jetzt ist Assad raus. Aber nicht alle Menschen des Systems haben Syrien verlassen. Um einen dauerhaften Frieden zu schaffen, müssen wir all dies ansprechen, diskutieren und uns demokratisch einigen.

taz: Die HTS möchte wohl erst mal die alten Staatsbediensteten behalten. Also Leute, die zumindest loyal gegenüber dem Regime waren. Wie kann das funktionieren?

Foto: Stephan Röhl

Joumana Seif

Syrische Menschenrechts­anwältin, seit 2012 in Deutschland. Arbeitet beim Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR).

Seif: Das Regime ist weg, es gibt keinen Regime-Teil mehr. Es gibt viele Tech­no­kra­t*in­nen in Syrien, auch wenn sie für die Regierung gearbeitet haben. Wir sollten unterscheiden zwischen Leuten, die nur Angestellte und nie in die Verbrechen verwickelt waren, und denjenigen, die Blut an den Händen haben.

taz: Hunderttausende wurden aus Foltergefängnissen befreit. Was bedeutet das für die Übergangszeit?

Seif: Wir müssen alle Beweise sichern und die Dokumentation der Fälle schützen. Später hängt es von vielen Faktoren ab, wie dieser Prozess gestaltet wird. Auch da muss das gemeinsame Interesse des syrischen Volkes berücksichtigt werden. Deshalb ist das Konzept der Transitional Justice wichtig.

taz: Was bedeutet Transitional Justice?

Seif: Unrecht aufzuarbeiten und anzuerkennen. Also: Wahrheitsfindung, strafrechtliche Rechenschaft und Verantwortung, Versöhnung, Wiedergutmachung oder Entschädigung für die Verluste der Menschen. Wir haben diese Arbeit in Deutschland begonnen. Der weltweit erste Prozess wegen staatlicher Folter in Syrien war in Deutschland, im April 2020, gegen zwei ehemalige Regimevertreter. Wir haben die Angriffe auf die Zivilbevölkerung dokumentiert und bewiesen, dass Folter, Tötung und sexualisierte Gewalt systematisch gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Es laufen noch viele Prozesse, auch in Deutschland. Was die Menschen durchgemacht haben, muss von allen anerkannt werden, auch offiziell.

taz: Es geht Ihnen um Vergangenheitsarbeit.

Seif: Ja, die Menschen brauchen Gerechtigkeit, auch indem ihr Schaden und Schmerz anerkannt wird. Sonst könnten sie anfangen, Verluste aufzurechnen – vor allem die Menschen, die nirgendwohin zurückkehren können, die gewaltsam vertrieben wurden. Millionen haben ihre Häuser, ihre Geschäfte verloren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen