: Amtlich unbarmherzig
Eine Demente soll sich erinnern, eine Bettlägerige laufen: In seinem „Schwarzbuch sozial“ schildert der Sozialverband Fälle, in denen die Sozialbürokratie nicht gut wegkommt
Von Nadine Conti
Das mit dem „Schwarzbuch“ haben sie sich vermutlich beim Bund der Steuerzahler abgeguckt. Seit 2017 gibt der niedersächsische Landesverband des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) sein „Schwarzbuch sozial“ heraus. Aber anders als die spektakulär dämlichen Bauprojekte oder andere Verschwendungsbeispiele, die der Steuerzahlerbund gern anprangert, taugen die vom SoVD erzählten Fälle oft nicht so leicht für schmissige Schlagzeilen. Hier geht es um abgelehnte Anträge bei Krankenkassen, Pflegekassen, Rentenversicherern und Sozialämtern.
Das hochkomplexe Sozialrecht ist etwas für Experten. „Wir sehen, dass immer mehr Menschen Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden und Institutionen haben“, sagt der Vorsitzende des SoVD-Verbandsrates, Bernhard Sackarendt, bei der Vorstellung des diesjährigen Schwarzbuchs. Das trifft vor allem Menschen mit Behinderungen und Pflegebedürftige mit geringem Einkommen.
Der SoVD funktioniert so ähnlich wie ein Mieterschutzbund: Mitglieder zahlen einen monatlichen Beitrag von 7,90 Euro. Dafür helfen die Beratungsstellen bei Anträgen, Widersprüchen und oft auch vor Gericht.
Vor allem die Pflege macht dem Verband zunehmend Sorgen. Verfahren in diesem Bereich haben dramatisch zugenommen. Bei monatlich 2.300 Euro liegt die private Zuzahlung für einen Pflegeheimplatz in Niedersachsen mittlerweile im Schnitt. Wenn die Rente dafür nicht reicht und die Ersparnisse nach wenigen Monaten im Heim aufgebraucht sind, muss die Kostenübernahme beim Sozialamt beantragt werden.
So wie im Fall von Christa Köhler aus Gifhorn. Neun Monate braucht das Amt, um einen Bescheid zu erstellen. Neun Monate, in denen die Angehörigen an der Ungewissheit verzweifeln und die Seniorin nicht einmal mehr ein kleines Taschengeld erhält.
Was die Betroffenen stattdessen bekommen: Immer neue Nachfragen, deren Sinn sich ihnen nicht erschließt. Wie etwa diese: Warum Christa Köhler denn im Dezember 2019 einen größeren Betrag von ihrem Konto abgehoben hat, will die zuständige Sachbearbeiterin wissen.
Dabei ist aus den Antragsunterlagen erkennbar, dass Christa Köhler diese Frage kaum beantworten kann – sie ist dement und erkennt oft ihre eigenen Angehörigen nicht mehr. Die vermuten, sie habe davon wohl Weihnachtsgeschenke für ihre zwölf Enkel gekauft. Aber wie will man so etwas fünf Jahre später noch belegen und wozu muss man das überhaupt?
Die Beraterin Christine Scholz vom SoVD hat einen anderen Verdacht: Oft dienen solche Nachfragen bloß dazu, eine aktive Antragsbearbeitung zu simulieren und auf Zeit zu spielen. Das Sozialamt leidet unter Personalmangel, will aber keine Untätigkeitsklage riskieren, glaubt sie. Ein persönlicher Gesprächstermin zur Klärung sei auch abgelehnt worden. Am Ende hat die Intervention der Beratungsstelle aber Erfolg: Das Sozialamt Gifhorn verschickt dann doch noch einen Bewilligungsbescheid.
In anderen Fällen dauert es noch länger. Zweieinhalb Jahre kämpfte der SoVD für das Ehepaar Schröder vor Gericht. Die 64-Jährige ist bettlägerig und wird von ihrem Mann mit der Unterstützung eines Pflegedienstes gepflegt. Für Arztbesuche benötigt sie einen Liegendtransport, ins Bett wird sie mit einem Lifter gehoben. Trotzdem verweigert ihr das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie einen entsprechenden Grad der Behinderung und das Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung), das von dem Paar benötigt wird, um zum Beispiel auf Behindertenparkplätzen parken zu können.
Der Grund: Frau Schröder leidet an einer neurologischen Erkrankung, nicht an einer orthopädischen Beeinträchtigung. Über zwei Jahre dauert das Gerichtsverfahren, in dem dann festgestellt wird, dass sie zwar im Liegen ihre Beine noch ein wenig bewegen kann – aber definitiv nicht laufen.
Mehr als zwanzig Fälle dieser Art hat der SoVD versammelt. Oft zeugen sie vor allem von einem Mangel an Empathie und Sachbearbeitern, die nach Aktenlage entscheiden, ohne sich ein vollständiges Bild zu machen. Vieles, betont Dirk Swinke, Vorstandsvorsitzender des SoVD in Niedersachsen, sei aber eben auch politischen Weichenstellungen geschuldet.
Schon lange fordert der SoVD, das Land müsse den Pflegeheimen bei den Investitionskosten beispringen. Allein dadurch, sagt Swinke, ließen sich die Zuzahlungskosten um 500 Euro im Monat drücken – und damit müssten auch weniger Leute Grundsicherung im Alter beantragen.
Und das, sagt er, sei ja nicht die einzige Milchmädchenrechnung, die in diesem Bereich aufgemacht werde. Auch bei den Debatten ums Bürgergeld werde gern einmal vergessen, dass eine Nullrunde hier auch eine Nullrunde bei der Grundsicherung im Alter bedeuten würde. „Es wäre schön, wenn wir das Schwarzbuch nicht mehr bräuchten“, sagte Sackarendt. „Es sieht aber leider nicht danach aus“, ergänzt Swinke.
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