: Vom Versuch, mit dem Meer zu kooperieren
Fast ein Revival von Storms „Schimmelreiter“: Umweltingenieur Felix Spröer erforscht, wie Küsten mit Lahnungen gegen Folgen des Klimawandels geschützt werden können
Von Harff-Peter Schönherr
Wissenschaftler denken sich für ihre Projekte oft Akronyme aus, und teils klingt das dann ziemlich schräg, augenzwinkernd und lustig. Auch Umweltingenieur Felix Spröer vom Leichtweiß-Institut für Wasserbau (LWI) der Technischen Universität Braunschweig, Fachgebiet Hydromechanik, Küsteningenieurwesen und Seebau, verwendet oft eins: „Vemolahn“. Es steht für „Interaktion von Vegetation und Morphodynamik in Lahnungsfeldern“ und ist eins der unspektakuläreren.
„Wir machen da oft selbst Witze drüber“, sagt Spröer der taz. „Aber solche Abkürzungen helfen in der alltäglichen Kommunikation. Wissenschaftliche Projekttitel können ja sehr lang und komplex sein. So wissen alle sofort, was gemeint ist.“
Eine Lahnung ist eine traditionelle Küstenschutzanlage im seeseitigen Vorland des Deichs, klassischerweise aus zwei Reihen von Holzpflöcken gebaut, zwischen die Reisig geschnürt wird. Zuweilen besteht sie auch aus Steinwällen. In rechteckigen, gestaffelten Feldern angelegt, beruhigen Lahnungen die Strömung und wirken durch Sedimentablagerung der Erosion entgegen. Schlick- und Sandzonen entstehen so, Salzwiesen. Der Boden hebt sich. Die Belastung des Deichs sinkt. Eine Technik, angewandt seit Jahrhunderten.
„Bisher wurde da allerdings wenig Wissenschaft reingesteckt“, sagt Spröer, der den Lahnungen seine Dissertation widmet. Vemolahn, auf drei Jahre ausgelegt, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert, holt das jetzt nach, nicht zuletzt als Prävention gegen die Folgen der Klimakrise.
Das Projekt ist eine Kooperation mit dem Ludwig-Franzius-Institut für Wasserbau und Ästuar- und Küsteningenieurwesen (Lufi) der Leibniz-Universität Hannover. Der Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein und der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz leisten Zuarbeit.
Sie alle zielen auf Praxisanwendungen. Wenn Vemolahn im Herbst 2025 abgeschlossen ist, wird es ein Tool für den Küstenschutz sein, um Lahnungsfelder zu optimieren und der Klimakrise anzupassen.
Um Landgewinnung wie in Theodor Storms legendärer Deichbau-Schauernovelle „Der Schimmelreiter“ geht es in Vemolahn nicht. Im Wattenmeer, Weltnaturerbe von den Niederlanden bis Dänemark, geprägt von Nationalparkflächen und Biosphärenreservaten, findet sie nicht mehr statt.
„Ein Haufen neuer Plag und Arbeit erhob sich vor der Seele des Deichgrafen“, schreibt Storm. „Nicht nur der alte Deich mußte hier verstärkt, auch dessen Profil dem des neuen angenähert werden; vor allem aber mußte der als gefährlich wieder aufgetretene Priel durch neuzulegende Dämme oder Lahnungen abgeleitet werden.“ Storms bedrohliche Beschreibung des nordfriesischen Meeres, so realistisch wie poetisch, wirkt bis heute nach.
Damals sah, wer eine Lahnung baute und instand hielt, das Meer als Gefahr, der es Agrarfläche abzutrotzen und gegen dessen Sturmfluten es Abwehrfestungen zu errichten galt. Heute fokussiert sich das Handeln auf ein Miteinander von Mensch und Natur, nicht auf ein Gegeneinander. Vemolahn ziele auf „naturnahen, nachhaltigen“ Küstenschutz, sagt Spröer. „Klar, jede Lahnung ist ein Eingriff in die Natur. Aber gleichzeitig entstehen dadurch neue Lebensräume, mit großer Artenvielfalt.“
In Vemolahn geht es nicht nur darum zu verstehen, wie Lahnungen funktionieren, von der Positionierung bis zur Baugeometrie, und wie man sie verbessern kann. Es geht auch darum, das Meer zu verstehen.
Das tut Spröer meist weit vom Meer entfernt. Von seinem Mess-Turm im Watt vor der nordfriesischen Insel Pellworm, der Seegang und Sedimenttransport erfasst, Boden- und Vegetationsdaten, ist Braunschweig über fünf Autostunden entfernt.
Der mastähnliche Turm überträgt die Daten per Mobilfunk zu Spröer. Das silberne Edelstahlgebilde ragt hoch aus dem Wattboden empor. „Eine Welle darf da ruhig mal drübergehen“, sagt der Forscher. „Aber natürlich sollte die Elektronik nicht dauerhaft unter Wasser sein.“ Der Strom für das Forschungsequipment an den Spitze des Mastes kommt aus einer Methanol-Brennstoffzelle, die nur Sauerstoff und Wasser emittiert. Sie hält ein paar Monate. Danach muss Ströer dann doch mal rauf ans Meer.
„Derzeit arbeite ich im Labor“, sagt Spröer. „In unserem Wellenkanal machen wir kleinskalige Versuche mit Modell-Lahnungen.“ Die Daten aus Pellworm bilden dafür die Grundlage. Dass die Wahl auf Pellworm fiel, ist kein Zufall. „Inseln spüren den Klimawandel als Erste“, sagt Spröer.
Die Daten aus Pellworm, von der Wellenlaufrichtung bis zu Vorkommen salztoleranter Pionierpflanzen, münden in prognostische Computer-Modellierungen, die auch für jeden anderen Standort die Wechselwirkungen simulieren können, die zwischen Lahnung und Natur entstehen. „Verhalten sie sich wie in der Natur, sind sie richtig“, sagt Spröer. „Tun sie das nicht, sind sie nur Mathematik.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen