: Damit Lügen keine Chance haben
Das Tagebuch „Krieg und Frieden“ hatte eine therapeutische Wirkung für die mitwirkenden Autor:innen – und dokumentierte die Stimmen der Generation des Krieges in der Ukraine
Von Anastasia Magasowa
Vor fast tausend Tagen begann Russland eine groß angelegte Invasion auf die Ukraine. Vor fast tausend Tagen schrieb ich den ersten Beitrag für das Tagebuch „Krieg und Frieden“, das später als Buch veröffentlicht wurde. Als ich dieses Tagebuch begann, wusste ich nicht, wie viele Beiträge es enthalten würde, über welche Schrecken und Tragödien ich würde schreiben müssen. Und wie sich die Menschen um mich herum und ich selbst in dieser Zeit verändern würden.
Damals, Anfang März 2022, schien es, als würde dieser absurde russische Angriff nicht lange dauern. Denn die zivilisierte Welt hätte sich zusammenschließen sollen, um das Opfer zu schützen – und ohne dem Aggressor auch nur den geringsten Anlass zu geben, seinen Appetit zu steigern. Die Dokumentation des Kriegsgeschehens in einem Tagebuch schien dazu beizutragen. „Deshalb werden meine Kollegen und ich täglich in diesem Tagebuch über die Geschehnisse vor Ort berichten. Damit Lügen und Desinformation über den russisch-ukrainischen Krieg keine Chance haben. Denn Meinungsfreiheit und das Recht auf Wahrheit sind Grundwerte eines demokratischen Staates“, schrieb ich damals am Ende meines ersten Tagebucheintrags.
Seitdem sind fast drei Jahre vergangen. Ich habe mehrere Hundert journalistische Texte und Essays geschrieben, bin an alle Fronten gereist. Ein Ende des Krieges ist immer noch nicht in Sicht. Hunderttausende Menschen wurden getötet und verwundet, ganze Städte in der Ukraine verschwanden. Die Unterstützung für die Ukraine schwindet und Russland verbündet sich mit anderen Autokratien im Krieg gegen die freie Welt. Ich habe das Gefühl, dass wir uns heute in einem noch größeren Moment der Unsicherheit befinden, als im Frühjahr 2022.
Ich lese meinen Tagebucheintrag aus Cherson nach der Befreiung von der russischen Besatzung erneut, nachdem ich die Stadt vor zwei Wochen wieder besucht habe, und erlebe eine komplexe Mischung von Gefühlen. Damals schrieb ich über die Euphorie der Einheimischen, als sie wieder ohne Angst durch die Straßen ihrer Heimatstadt gehen konnten, als sie keine Angst mehr vor bewaffneten und aggressiven Männern haben mussten, die mitten in der Nacht in ihre Häuser eindringen konnten, als sie nicht mehr in Folterkammern eingesperrt werden konnten. Nach neun Monaten der Repression schien es, als gehöre der russische Terror endlich der Vergangenheit an.
Doch wie trügerisch waren diese Hoffnungen. Sechs Monate nach der Befreiung kam es in Cherson zu einer Überschwemmung, die durch die Sprengung des Staudamms des Wasserkraftwerks Kachowka durch russische Truppen verursacht wurde. Einige Häuser wurden komplett weggeschwemmt, die Menschen obdachlos. In einigen Häusern sind die Wände noch immer nicht trocken und Reparaturen können wegen des ständigen Beschusses kaum durchgeführt werden.
Das Buch „Krieg und Frieden“, herausgegeben von Tigran Petrosyan, ist ein Tagebuch mit Beiträgen von 16 Autor:innen aus der Ukraine, Russland, Belarus, aus Armenien und Georgien, aus Estland, Lettland, Moldau und Kirgistan.
taz Panter Stiftung und edition.fotoTAPETA__Flugschrift, September 2022
taz.de/krieg-und-frieden
Die Stadt Cherson ist heute eine Frontstadt, in der nur noch wenige Stadtviertel belebt sind. Hier leben noch mehrere Zehntausend Menschen, es gibt noch Märkte und Geschäfte, sogar einige Cafés und Kinder, die in den Parks herumtollen. Und das alles, obwohl jeder Einwohner eine Zielscheibe ist und sich in der Stadt wie in einem Schießstand bewegt – Russlands Militär trifft oder verfehlt. Es ist nur einen Kilometer vom Stadtzentrum entfernt stationiert und überwacht die Einheimischen mit Drohnen. Sie lassen wahllos Sprengladungen von Drohnen auf die Köpfe der Menschen fallen – egal ob alt oder jung, Mann, Frau oder Kind. So trainieren sie, üben ihre Fähigkeiten an Zivilisten. Vor meinen Augen stirbt eine weitere Stadt meines Heimatlandes.
Das Tagebuch „Krieg und Frieden“ ist zu einem historischen Dokument geworden, das nicht nur persönliche Emotionen und Erlebnisse beschreibt, sondern auch einen Teil der kollektiven Erfahrung einer Generation, die den größten Krieg in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt. Es hat festgehalten, wie sich im Laufe der Zeit Wut in Müdigkeit verwandelte und die Angst, die anfangs nicht da war, sich langsam einschlich. Es ist nicht die Angst vor der Brutalität der russischen Soldaten – sondern die Angst, die eigene Freiheit und Unabhängigkeit zu verlieren. Weil man nicht in der Lage ist, einen Gegner zu besiegen, der über viel größere Kräfte verfügt, und weil die Unterstützung der Partner der Ukraine vor den eigenen Augen dahinschmilzt.
Mit der Zeit hatte das Tagebuchschreiben eine therapeutische Wirkung – das Aufschreiben half, mit der ständigen Anspannung und dem Schmerz umzugehen. Es war nicht nur eine Möglichkeit, die eigenen Gedanken zu ordnen, sondern auch über unsere Erfahrungen nachzudenken. Ich würde gerne glauben, dass dieses Tagebuch ein Vermächtnis für zukünftige Generationen sein wird. Dass das, was darin beschrieben wird, ein endgültiger Beweis für die Brutalität und Rücksichtslosigkeit von Diktaturen sein wird.
Die Autorin wurde auf der heute von Russland besetzten Halbinsel Krim geboren und nahm an mehreren Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung teil.
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