: Die Götter in Weiß und ihre Lobby
Warum gibt es eigentlich so wenig Kritik an Ärztelobbys? Zwei Beispiele, die zu denken geben
Von Wilfried Urbe
Lobbyvertreter der Ärzteschaft stoßen in den Medien selten auf Widerspruch, wenn sie vermeintliche Missstände anprangern. Das Bild der „Götter in Weiß“ scheint doch sehr wirkmächtig zu sein. Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit war die Forderung nach Ausfallhonoraren, wenn Termine von Patientinnen und Patienten nicht wahrgenommen werden.
Es sei mehr als ärgerlich, wenn Patienten Termine einfach verstreichen lassen würden, kritisierte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) Mitte September. Deren Termine würden dann für andere nicht mehr zur Verfügung stehen. Der KBV-Vorsitzende Andreas Gassen forderte dann recht medienwirksam eine „von den Kassen zu entrichtende Ausfallgebühr“.
Was dabei in den Hintergrund rückte: Auf welcher dünnen Basis diese Forderung entstand. Bezug genommen wird dabei auf eine Umfrage der Organisation vom Sommer 2023 zu nicht abgesagten Terminen, die über acht Tage lief: 2.218 Personen nahmen teil und beantworteten zwei Fragen: „Haben Sie in Ihrer Praxis Probleme mit unabgesagten Terminen?“, was ungefähr 68 Prozent mit „Ja“ beantworteten. Bei „Falls ja, wie viel Prozent der Termine betrifft dies?“, gaben nur 16 Prozent der Antwortenden einen Bereich von 10 bis 20 Prozent aller Termine an, während eine geringe Minderheit von rund 3 Prozent behauptete, dass mehr als 20 Prozent aller Termine betroffen seien.
Dazu noch eine Kennzahl: 168.285 Ärztinnen und Ärzte mit rund 330.000 Fachangestellten waren 2023 tätig. Es ist fraglich, wie aussagekräftig solch eine Onlineumfrage sein kann.
Eine der wichtigsten Aufgaben der Kassenärztlichen Vereinigung ist es, sich mit den Krankenkassen auf die Vergütung der vertragsärztlichen Leistungen zu einigen. Sie teilt auch die Vergütungen, die von den Krankenkassen direkt an die Kassenärztliche Vereinigung gezahlt werden, je nach erbrachter Leistung auf die einzelnen Ärztinnen, Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auf. Nach eigenen Angaben kämpft sie dafür, den Arztberuf „wieder attraktiver zu gestalten“: „Keine andere Ärzteorganisation kann einen solchen unmittelbaren Einfluss auf Politik und Gesetzgebung geltend machen.“ Und das tut sie auch.
„Die Ärzteschaft versteht es, ihre eigenen Interessen so zu überhöhen, als ob diese Interessen auch im Interesse der Gesellschaft sein würden“, kritisiert Nadja Rakowitz, Sprecherin des Vereins demokratischer Ärzt*innen, der sich vehement gegen die Ökonomisierung des Medizinbetriebs wendet. Ärztelobbys wie Hartmannbund oder Kassenärztliche Vereinigungen seien aber ökonomische Interessenverbände von Kleinunternehmern, weniger medizinische. Sie nutzten die Reputation ihrer Berufsgruppe aus, um ihre privaten, betriebswirtschaftlichen Interessen zu verschleiern und sie zu allgemein menschlichen zu überhöhen. Dies diene laut Rakowitz selten dem Wohl der Patient*innen.
Auch die Forderung nach Ausfallhonoraren kann sie nicht nachvollziehen. Um einen Facharzttermin zu erhalten, müsse man monatelang warten. „Und nimmt man ihn dann wahr, hat man in der Praxis immer noch Wartezeiten von zwei Stunden oder mehr“, sagt Rakowitz. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das zu größeren Verwerfungen führt, wenn jemand dann mal nicht kommt.“
Dennoch wurde die entsprechende Pressemitteilung in den meisten Medien ohne kritische Betrachtung übernommen, genau wie eine Meldung über die gestiegene Gewalt in Arztpraxen. Das war bereits Mitte August. Auch dort war die Datenbasis dünn. Erst im Nachhinein machte die KBV eine Onlineumfrage, um diese Aussage mit Zahlen zu belegen.
Natürlich ist Gewalt gegen wen auch immer unakzeptabel. Aber die Botschaften aus der letzten Zeit, die von den einschlägigen Lobbyorganisationen gestreut wurden, prägen die Ansichten von gesellschaftlicher Realität. Es wurde der Eindruck erweckt, dass in den Arztpraxen ein wild gewordener, gewalttätiger Mob zum Alltag geworden ist. Und dass das Blaumachen ebenfalls an der Tagesordnung ist.
Mögliche Ursachen dafür – sollten die Beschreibungen zutreffend sein – fehlten aber ganz. „Angesichts der Zustände wird auch die steigende Gereiztheit der Betroffenen sicherlich eine Rolle spielen“, vermutet Rakowitz. Letztlich würden Patient*innen in ihrer Ganzheit diskreditiert: „Aber alle merken, dass keine gute medizinische Versorgung im ambulanten Bereich mehr gegeben ist.“ Dabei sind es die gesetzlich Versicherten, die etwa im Jahr 2023 mit ihren Beiträgen von rund 290 Milliarden Euro maßgeblich zur Finanzierung des Gesundheitssystems beitrugen, sich aber immer mehr als Bittsteller oder Almosenempfänger behandelt fühlen.
„Vor 30 Jahren war es noch undenkbar, dass heute etwa solch eine Ungleichheit zwischen gesetzlich und Privatversicherten besteht“, sagt die Sprecherin der demokratischen Ärzt*innen, es sei „eigentlich berufsrechtlich verboten, dass jemand früher einen Termin bekommt, weil man an ihm mehr Geld verdient“.
Heute ist es auf Apps, mit denen Termine online gebucht werden können, für jeden durch einen Selbstversuch offensichtlich, dass Privatpatienten bevorzugt werden. Es sei auch Aufgabe der Medien, die Verlautbarungen der ärztlichen Lobbygruppen kritisch zu durchleuchten, merkt Rakowitz an.
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