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Ende der telefonischen KrankschreibungHallo, einmal Attest bitte

Uli Hannemann
Kommentar von Uli Hannemann

Lindner fordert die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung. Durchseuchte Wartezimmer sind aber eine größere Gefahr für die Volkswirtschaft.

Seit Dezember 2023 kann man sich telefonisch krankmelden Foto: FPG/getty

D ie erst im Dezember 2023 eingeführte Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung unter bestimmten Voraussetzungen (leichte Symptome, kein Neupatient) steht bereits wieder auf dem Prüfstand. Während Ärzte die Maßnahme überwiegend als Entbürokratisierung begrüßen, wollen Konjunkturexperten errechnet haben, dass die Wirtschaft ohne den in Deutschland im internationalen Vergleich sehr hohen Krankenstand im vergangenen Jahr nicht um 0,3 Prozent geschrumpft wäre, sondern um 0,5 Prozent gewachsen.

Und wo Finanzminister Lindner (FDP) eine Zahl mit einem Plus davor sieht, und sei diese auch noch so klein, fällt er sofort in hektische Betriebsamkeit. Missbrauch riechend, fordert er eine Abschaffung der telefonischen Krankschreibung. Dabei wolle er „niemandem vorwerfen, die Regelung auszunutzen“.

Doch, will er. Dabei gibt es so viele Krankheiten, die zwar den Gang zur Arbeit nicht zulassen, aber eine ärztliche Diagnose nicht wirklich erfordern: Erkältungen, Magen-Darm-Viren, all diese kleinen Malaisen, die nichts außer Zwieback, Kamillentee und Bettruhe nötig machen.

Was niemand braucht, ist ein unnötiger Besuch bei der Allgemeinärztin, die nichts ausrichten kann, außer Teechen anzuraten

Was niemandem nützt, ist jedoch ein Kriechgang auf dem Zahnfleisch ins Büro, wo man dann den Rest der Belegschaft auch noch mit ins Verderben zieht. Wenn die Pandemie zu etwas gut war, dann war es sicher eine erhöhte Sensibilität für den Komplex „gesellschaftliche Verantwortung und Ansteckungsgefahr“.

Mehr Zeit für Pestpatienten

Und was ebenfalls niemand braucht, ist ein unnötiger Besuch bei der Allgemeinärztin, die nichts ausrichten kann, außer besagte Teechen anzuraten, und der nunmehr die Zeit für Krebs-, Pest- und Magendurchbruchspatientinnen fehlt.

Sagen wir es, wie es ist: Lindner möchte anscheinend, dass diese Leute sterben, da sie für die deutsche Wirtschaft ohnehin nicht mehr genügend leisten. Doch was auf den ersten Blick in all seiner Perfidie doch immerhin aus seiner Sicht wie ein kluger Schachzug wirkt, entpuppt sich auf den zweiten als formidables Eigentor.

Denn nicht nur, dass echte Kranke, die ja keinen Termin machen können, und daher in den mit Viren, Bakterien, Milben, Flöhen, Läusen und anderen Patienten durchseuchten Wartezimmern umso länger warten müssen, durch diese Tortur weiter geschwächt werden und damit den Heilungsverlauf verzögern, was die Volkswirtschaft im Ausmaß eines kleineren Bürgerkriegs schädigt. Nein, diese de facto Lazarettsituation zieht natürlich noch eine weitere Negativspirale nach sich.

Denn so gestaltete sich der Kreislauf der Natur vor der telefonischen Krankschreibung: Die echten Kranken steckten in der Arztpraxis die anderen echten Kranken mit einer zweiten Krankheit an, und umgekehrt genau so die anderen echten die ersten echten. Die unechten Kranken, die mit ihrer unechten Krankheit nur einer Krankschreibung wegen gekommen waren, wurden wiederum von den echten Kranken im Wartezimmer erst einmal mit einer echten Krankheit infiziert. Lediglich die Kombination unechter Kranker versus unechter Kranker blieb vergleichsweise folgenlos.

Betrugsvorwürfe und Simulantenbashing

Die aber ist gar nicht mal so häufig, wie die Kritiker der Regelung zu denken scheinen: „Die Unterstellungen, dass sich die Menschen mithilfe der Telefon-AU einen schlanken Fuß machen, können wir aus unserer täglichen Arbeit nicht bestätigen“, sagt die Co-Vorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands, Nicola Buhlinger-Göpfarth. Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, sieht keine Korrelation zwischen erhöhten Krankenständen und der telefonischen Krankschreibung.

Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, sieht hingegen „ungerechtfertigte Praktiken von digitalen Geschäftemachern“ am Werk. Verschwörungsgeraune, Betrugsvorwürfe und Simulantenbashing allerorten.

Doch wie stellen sich Lindner und Konsorten das eigentlich vor? Dass Arbeitsunwilligen die Aussicht auf ein paar süße Tage der Frei(h/z)eit nicht die paar Stunden Sitzfleischprobe wert sein wird? Oder dass der weißbärtige Arzt (zwei Meter siebzehn, hundertzwanzig Kilo) mit einem stechenden Blick irgendwo zwischen Zeus und Nikolaus den falschen Kranken entlarvt, und mit donnernder Stimme zur Räson ruft, ein Appell an seine Verantwortung als Dienstameise? Und der Ertappte daraufhin weinend gesteht und auch die für diesen Termin geschwänzte Arbeitszeit nacharbeitet?

Und natürlich benötigt man kein Telefon für eine gefakte Krankheit. Den berühmten „Krankschreibearzt“ gab es auch vorher schon, entsprechende Adressen laufen seit jeher unter der Hand. Ganz davon abgesehen, dass auch die regulären Ärztinnen Besseres zu tun haben, als mit eventuell nicht ganz so Kranken um den digitalen gelben Zettel zu ringen. Umso mehr, wenn ihre Praxis von solchen Kandidaten in Zukunft wieder zunehmend überrannt wird.

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Uli Hannemann
Seit 2001 freier Schreibmann für verschiedene Ressorts. Mitglied der Berliner Lesebühne "LSD - Liebe statt Drogen" und Autor zahlreicher Bücher.
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9 Kommentare

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  • War diese Gurkentruppe nicht mal für Bürokratieabbau, Digitalisierung, Modernisier.. ah, mea culpa, die würde hier ja den Arbeitnehmern helfen. Keine weiteren Fragen.

  • Wäre ich gehässig, würde ich das alte Sprichwort "Hinter dem Busch, wo ich stecke, suche ich die Anderen." anführen.



    Durfte diese Jahr auch schon diese Dienstleistung in Anspruch nehmen und war glücklich darüber, nicht nur wegen der Vermeidung von Wartezeit beim Arzt, sondern auch wegen dem ganzen Stück gesparten Weg. Ist nämlich ein ganzes Eckchen und Öffis sind leider nicht so verfügbar, und wenn, dann sind die auch ein guter Brutkasten für Rüsselseuche.

  • Bei nem ZEIT-Artikel zum gleichen Thema stand in den Kommentaren, daß mer wohl den für die Krankenkasse gedachten Durchschlag wegen zweidreiTage krank ned an jene geschickt hat was jetzt mit der elektronischen Verarbeitung eben genau gezählt wird. Ich hab des auch nur einmal gemacht, war jetzt auch ned soo ewig viel krank.



    Ansonsten hat der Herr Finanzminister hoffentlich paar Allgemeinmediziner in seiner Bubble, welche ihm mal die Leviten lesen, weil zuallererst mißtraut er den Ärzt*innen.

  • Wenn Privatpatient Lindner beim Arzt anruft, bekommt er auch recht schnell einen Termin. Als gesetzlich Versicherter muss ich ausgesprochenes Glück haben, wenn ich noch in der gleichen Woche einen Termin erhalte. Beispiel: Knie verletzt. Versucht, einen Termin beim Orthopäden zu erhalten. Das war Dienstag vergangene Woche. Nächst möglicher Termin wäre diese Woche Donnerstag. Auf meine Anmerkung, dass ich kaum laufen kann und ja so auch nicht arbeiten kann, verwies man mich an meinen Hausarzt, der mich krankschreiben soll. Also Hausarzt angerufen. Er hat aber auch keine Termine frei vor Mitte, Ende dieser Woche und könne sich mein Knie auch nicht mal ansehen. Einzige Möglichkeit: Krankschreibung per Telefon. Und so geht das aktuell bei fast allen Ärzten. Zeitnah Termine zu erhalten ist nahezu unmöglich.

    Herr Lindner hat also wieder mal NULL Ahnung vom realen Leben. Aber das ist ja nichts Neues.

  • Während meiner Erkrankung mit anschließender Chemotherapie musste ich alle 14 Tage beim Arzt die AU verlängern und die Kopie bei der Kasse einreichen , wegen Krankengeld.



    Und heute soll nur ein Anruf genügen? Wahnsinn!

    • @Stoffel:

      Über Telefon geht nur eine einmalige Krankschreibung, sollte eine Verlängerung notwendig sein, muß man beim zuständigen Arzt Vorsprechen.

      • @Wurstfinger Joe:

        Du solltest bevor Du antwortest, den Beitrag lesen & verstehen!



        "Während meiner Erkrankung mit anschließender Chemotherapie musste ich alle 14 Tage beim Arzt die AU verlängern..."



        Das o.a. heißt "Karzinom = Krebserkrankung mit massiver Nachbehandlung" & hat nicht mit §Chemischer Reinigung" von Klamotten zu tun! :-(



        Ps. Operation + Chemo + Anschlussreha (Kur zur Wiedereingliederung) = ca 6-8 Monate, öfter auch länger!" :-(

        • @Sikasuu:

          Das war mir klar, durfte ich live bei meiner Mutter erleben. Die Anmerkung diente nur dazu, daß diese telefonische Krankschreibung eben nur einmal funktioniert und man dann bei Verlängerung trotzdem erscheinen muß, es also für längerfristige Krankheiten eben nicht so einfach funktioniert.

          • @Wurstfinger Joe:

            ..... man dann bei Verlängerung trotzdem erscheinen muß, es also für längerfristige Krankheiten eben nicht so einfach funktioniert.



            ----



            Kein mir bekannter/t Mediziner mach so etwas. Wenn das/die/der solche Patienten hat & der einigermaßen seine PatientIn kennt, ernst nimmt, stellt der DIE AU automatisch aus.



            Btw. Die elektronische AU erleichtert vielen Menschen gerade bei langfristigen Erkrankungen den Alltag!



            Ps. Gerade bei "Prognose infaust" ist wohl eine AU das letzte, was Patienten interessiert! :-(