Autor über vererbte Gefühle: „Wir stehen alle in der Reihe unserer Ahnen“
Laut dem Autor Sven Rohde gibt es Gefühle, die innerhalb von Familien weitergegeben werden. In Hamburg stellt er sein neues Buch „Gefühlserben“ vor.
taz: Herr Rohde was sind Gefühlserben?
Sven Rohde: Wir sind alle Gefühlserben. Wir stehen alle in der Reihe unserer Ahnen und sind viel stärker von ihnen geprägt, als den allermeisten von uns bewusst ist, vielleicht auch mehr, als wir es möchten. Familie prägt uns in unserem Denken, Fühlen und Handeln stark, zumal dann, wenn wir davon nichts wissen. Gefühlserbe ist dabei ein neutraler Begriff. Es kann ein positives, ein negatives aber auch ein richtig furchtbares Erbe sein.
taz: Sollte man sich sein Gefühlserbe immer bewusst machen oder nur, wenn es wirklich furchtbar ist?
Rohde: Es hilft, wenn man es sich insgesamt bewusst macht. Die Erziehungswissenschaftlerin Elisabeth Raffauf sagt, dass Eltern vor der Geburt ihres ersten Kindes eine kleine Autobiografie schreiben sollten. Auf 10 bis 20 Seiten sollten sie ihr Leben reflektieren, damit das Gefühlserbe nicht ungefiltert auf das Kind übertragen wird.
Jahrgang 1961, Journalist, Essenzcoach und psychotherapeutischer Heilpraktiker, betreibt seit 2023 den Blog „Gefühlserben“.
taz: Reicht das schon?
Rohde: Ein bisschen mehr sollte man schon tun. Wir müssen bei uns in Deutschland nicht weit zurückschauen, da sind wir schnell bei der Generation unserer Großeltern in der Nazizeit angekommen. Vielleicht mussten sie fliehen oder waren in das Nazisystem verstrickt, der Großvater war im Krieg. All diese negativen Gefühlserbschaften prägen uns persönlich, aber auch unsere Gesellschaft immer noch sehr, vor allem, wenn wir uns ihrer nicht bewusst werden.
taz: Warum?
Rohde: Weil wir nur verändern können, wovon wir wissen. In jedem Workshop und Vortrag, den ich halte, gibt es Menschen, die können nicht entspannt für ihren Urlaub packen. Allein die Vorahnung, dass sie nächsten Freitag für die anstehende Reise nach Mallorca die Kleidung aus dem Schrank in den Koffer räumen müssen, sorgt für immensen Stress. Notgedrungen schaffen sie es dann doch, verstehen aber nicht, warum es so schwerfällt. Aber stellen wir uns folgende Situation vor: Wir sind am Ende des Zweiten Weltkriegs in Ostpreußen, die Front rückt heran, man hört den Donner der Geschütze und hat zehn Minuten, um Hab und Gut auf einen Pferdespannwagen zu laden und zu fliehen. Dieser Stress ist von den Familien nie aufgearbeitet worden und wird als Gefühlserbe übertragen.
taz: Wo sitzt es denn, das Erbe?
Rohde: Es sitzt in einem Zusammenspiel aus Genen und Sozialisierung und wird auf unterschiedlichen Ebenen übertragen. Wir tragen circa 23.-25.000 Gene in uns und längst nicht alle sind aktiv. Das wird durch das Epigenom bestimmt, eine Art Informationsoberfläche oberhalb der Gene.
Und die Gene würden sich durchs Erleben verändern …?!
Buch-Premiere im Literaturhaus Hamburg, Eddy-Lübert-Saal, präsentiert Sven Rohde am 22. 10., um 19.30 Uhr, sein Buch „Gefühlserben“, Wien und Köln, V&R, 264 S., 28 Euro
Rohde: Nein. Erleiden Menschen Traumata, bleiben die Gene unangetastet, aber das Epigenom kann sich verändern. Das kann erklären, warum etwa Kinder und Enkel von Holocaustüberlebenden weniger resilient sind: Sie haben das Epigenom ihrer Vorfahren geerbt. Sie könnten dann anfälliger für ein posttraumatisches Belastungssyndrom sein. Aber es spielen auch unbewusste Übertragungsphänomene eine große Rolle.
taz: Wie kann man sich befreien?:
Rohde: Dysfunktionale Verhaltensmuster können aus eigenem negativem Erleben entstehen. Das kann ich in einer Therapie oder in einem Coaching aufarbeiten und das Muster löst sich auf. Wenn ich aber in meinem Leben keine Begründung für das dysfunktionale Verhalten finde, kann ich mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es ein Gefühlserbe ist. Erst, wenn ich mir dieses Gefühlserbe bewusst mache, kann ich mich daraus lösen und zu dem kommen, was mein Eigenes ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste