Meduza-Auswahl 26.September – 2.Oktober: Wie starb Nawalny?
Der Originalbericht über den Zustand des Oppositionellen Alexei Nawalnys kurz vor seinem Tod wurde vertuscht. Texte aus dem Exil.
Das russisch- und englischsprachige Portal Meduza zählt zu den wichtigsten unabhängigen russischen Medien. Im Januar 2023 wurde Meduza in Russland komplett verboten. Doch Meduza erhebt weiterhin seine Stimme gegen den Krieg – aus dem Exil. Die taz präsentiert seit 1. März 2023 unter taz.de/meduza immer mittwochs in einer wöchentlichen Auswahl, worüber Meduza aktuell berichtet. Das Projekt wird von der taz Panter Stiftung gefördert.
In der Woche vom 26. September bis zum 2. Oktober 2024 berichtete Meduza unter anderem über folgende Themen:
Russische Eliten über möglichen Konflikt mit der NATO
Die Position der russischen Eliten gegenüber dem Ukraine-Krieg hat sich seit Februar 2022 verändert. Darüber spricht das Exilmedium Meduza mit der US-amerikanischen Historikerin Amy Knight, die sich seit Jahrzehnten mit den Eliten Russlands befasst (russischer Text). „Wichtige Mitglieder der Elite sind unzufrieden und wünschen sich ein Ende des Krieges. Das ist ganz natürlich: Sie sind vom Westen abgeschnitten, die Oligarchen können nicht mehr mit ihren Jachten im Mittelmeer fahren, ihre Kinder können nicht mehr in der Schweiz wohnen“, sagt Knight im Interview.
Im Gespräch wird auch deutlich, dass es aber schwierig ist, auf Putin Einfluss zu nehmen. Je länger der Konflikt dauert, desto größer werde die Unzufriedenheit an der Spitze. Knight schließt nicht aus, dass einige Menschen der russischen Eliten eine Koalition unter sich bilden, sich gegen Putin stellen, um sogar seinen Rücktritt fordern. Sollte es zu einem direkten Konflikt zwischen Russland und der NATO kommen, würden sich die Eliten dagegen wehren. Das wäre laut der US-Historikerin eine klare rote Linie.
Wie ging es Alexei Nawalny, kurz bevor er starb?
„Der Häftling Alexei Nawalny legte sich auf den Boden, woraufhin er über starke Schmerzen in der Bauchgegend zu klagen begann. Danach begann er reflexartig den Mageninhalt auszuspucken, es traten Krämpfe auf und er verlor das Bewusstsein. Das wurde sofort dem medizinischen Personal der Justizvollzugsanstalt gemeldet“, so lautete die ursprüngliche Fassung des Berichts in der Strafkolonie im eisigen Permafrost Sibirien, in der im Februar der Oppostionspolitiker Alexei Nawalny starb. In der späteren offiziellen – und endgültigen – Fassung wurden „Magenschmerzen, Erbrechen und Krämpfe“ nicht erwähnt.
Zugang zu dieser Originalfassung hat nun das russische unabhängige investigative Medium The Insider gewinnen können. Es handelt sich um Hunderte von offiziellen Dokumenten, die in Zusammenhang mit dem Tod des Politikers gebracht werden. Meduza hat eine kurze Fassung der Recherche veröffentlicht (russischer Text).
Die Behörden „haben absichtlich Hinweise auf Symptome entfernt, damit der Bericht zur offiziellen Version passt“, analysiert The Insider. Proben darüber, dass Nawalny sich übergeben hatte, tauchten ebenfalls im Inventar der „beschlagnahmten Gegenstände“ auf und wurden zur Untersuchung übergeben. In der offiziellen Fassung wurde jedoch „weder das Gutachten noch das Erbrochene gemeldet“. In dem abschließenden Dokument, das für Julia Nawalnaja – seine Ehefrau – ausgestellt und von den Freunden der Politikerin veröffentlicht wurde, wird jedoch Erbrochenes erwähnt: Darin heißt es, dass nach der Untersuchung der Leiche „Waschungen von den Oberflächen der oberen Extremitäten, der Nasen- und Ohrpassagen durchgeführt, Nagelplatten und Erbrochenes beschlagnahmt wurden“.
Rekordzahl an russischen Soldaten, die desertieren
Oft bitten Russen, die von der Armee desertieren, ihre Familien um Hilfe. Soldaten, die aus ihren Einheiten geflohen sind, können sich aber oft schlecht in kleinen Gemeinden in Russland bei Verwandten verstecken. Im Jahr 2024 kam es zu einer Rekordzahl von russischen Soldaten, die aus dem Ukraine-Krieg weggegangen sind. Meduza fasst einen Bericht von BBC News Russischer Dienst zusammen (englischer Text), der vier Fälle in verschiedenen russischen Regionen Regionen schildert.
In Stavropol Krai, im Norden Kaukasus, kehrte zum Beispiel Dmitri Seliginenko nicht zu seiner Einheit in der Ukraine zurück und wurde wegen Desertion angeklagt. Im März 2023 entdeckte ihn ein örtlicher Polizeibeamter, der mit ihm zur Schule gegangen war, auf der Straße und versuchte, ihn zu verhaften.
Die „neuen Territorien“
Vor zwei Jahren annektierte Russland vier besetzte ukrainische Regionen – Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. Einige Wochen später gab die russische Armee Cherson auf, und Saporischschja wurde nie betreten. Russische Beamten, Propagandisten, Forschern, aber manchmal auch Oppositionelle bezeichnen diese Regionen als „neue Territorien“ oder „neue Regionen“.
In einer neuen Podcastfolge der Podcastreihe „Das Signal“ diskutieren Meduza-Journalist*innen darüber, warum dieser Begriff nicht neutral betrachtet werden kann (russischer Text). Russische Behörde und Propagandisten sprechen lieber von „neuen Gebieten“ statt von „neuen Russen“.
Alle Podcasts von Meduza können auf großen Podcast-Plattformen und YouTube gehört werden. Das Exilmedium hat auch eine Meduza-App, die so programmiert wurde, dass Blockaden umgeht und ohne VPN funktioniert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Resolution gegen Antisemitismus
Nicht komplex genug
Nach Hinrichtung von Jamshid Sharmahd
„Warum haben wir abgewartet, bis mein Vater tot ist?“
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“