Pflegekräfte auf den Barrikaden

An der Medizinischen Hochschule Hannover fordert das Pflegepersonal einen Tarifvertrag, der Entlastungen festschreibt. Ausgerechnet der sozialdemokratische Minister hält nun dagegen

Langer Kampf: Schon 2021 protestierten die MHH-Pflegekräfte für bessere Arbeitsbedingungen, hier vor dem Amtssitz des Ministerpräsidenten Foto: Moritz Frankenberg/dpa

Von Nadine Conti

Streiken sie oder streiken sie nicht? Das ist die Frage, die an der größten niedersächsischen Uniklinik, der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) Patienten, Pflegepersonal und Ärzte schon seit Wochen umtreibt. Es geht um mehr als den üblichen Tarifkonflikt. Die Gewerkschaft Ver.di fordert einen Tarifvertrag Entlastung (TV-E) nach dem Vorbild anderer Unikliniken. Geht rechtlich nicht, sagen MHH und Ministerium. Dann macht halt, dass es geht, sagen Ver.di und die protestierenden Pflegekräfte.

So etwas, sagt Burkhard Sohn, habe er noch nicht erlebt. Seit elf Jahren ist der Krankenpfleger an der MHH, war schon an Tarifauseinandersetzungen beteiligt. Doch dieses Mal geht es nicht darum, wer wie eingruppiert wird oder ein bisschen mehr Geld kriegt. Dieses Mal geht es um Verbesserungen der Arbeitsbedingungen. Der Forderungskatalog, den Ver.­di dem Ministerium übergeben hat, ist in einem aufwendigen, basisdemokratischen Beteiligungsprozess entstanden. 133 Bereiche haben formuliert, was sie benötigen, um gute Arbeit zu leisten.

Allein das, das machen seine Schilderungen deutlich, sorgt für eine ganz andere Haltung und Stimmung als bei den dutzenden Protesten zuvor: Raus aus der Opferrolle, dem Frust und dem ständig drohenden Burn-out, hin zu einer aktiven Gestaltung, zu klaren, konkreten Forderungen.

Und das betrifft nicht nur die Pflegekräfte. Mit im Boot sind auch die Mitarbeiter aus allen anderen Bereichen, aus Transport und Versorgung, Ambulanz, Labor und Radiologie bis hin zu Hebammen, Therapeuten, Lehrkräften und Azubis.

Sie versuchen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Veranstaltungen mit mehreren Hundert Teilnehmern im Biergarten oder im Arminia-Stadion machen deutlich: Das hier betrifft nicht nur die Beschäftigten, das betrifft jeden Bürger, jeden Patienten. „Wir haben ja sonst immer das Gefühl, wenn wir streiken, lassen wir unsere Patienten im Stich“, sagt Sohn, „aber hier war zu spüren, wie viele von denen eigentlich hinter uns stehen.“

Allerdings werden auch die MHH und die Landesregierung nicht müde, zu betonen, wie sehr sie den Wunsch der Pflegekräfte nach Entlastung verstehen und für absolut berechtigt hält. Strittig ist vor allem die Frage, wie das gehen soll.

Ver.di beruft sich auf das Vorbild diverser anderer Unikliniken, die bereits einen Entlastungs-Tarifvertrag abgeschlossen haben. Den Anfang machte 2021 die Charité in Berlin, 2022 erkämpften sich die Unikliniken in Nordrhein-Westfalen mit einem elfwöchigen Streik und harten juristischen Auseinandersetzungen ihren TV-E.

Der besondere Charme an diesen Vereinbarungen: Sie ­schrei­ben für jede Station, zum Teil schichtgenau, fest, welche personellen Mindestvoraussetzungen gegeben sein müssen. Sind sie das nicht, sammeln die Mitarbeiter, die das ausgleichen müssen, Belastungspunkte. Die werden dann in Form von Freizeit oder Geld ausgeglichen.

Das, so deuten es die ersten Auswertungen an, bedeutet nicht in jedem Fall, dass sich die Überlastungssituation sofort in Luft auflöst. Aber: Das Personal ist zufriedener, es gehen weniger Pflegekräfte von Bord, es scheint leichter, neues Personal zu gewinnen.

Müsste also nicht auch die MHH ein großes Interesse an einer solchen Vereinbarung haben? „Natürlich haben wir ein Interesse daran, die Mitarbeiter zu entlasten“, sagt Sprecherin Inka Burow. Allerdings könne die MHH als landeseigener Betrieb eben keinen eigenen Tarifvertrag abschließen. Man habe deshalb – schon vor dem aktuellen Konflikt – das Gespräch mit dem Personalrat über eine entsprechende Dienstvereinbarung gesucht. Nur: Zustande gekommen ist eine solche betriebliche Vereinbarung eben lange nicht.

Und jetzt mischt Ver.di mit. Eine Dienstvereinbarung, argumentieren die Gewerkschafter, ist viel unverbindlicher und leichter zu brechen als ein Tarifvertrag. Aber eine Gewerkschaft kann eben auch nur Tarifverhandlungen führen – für eine Dienstvereinbarung wäre der Personalrat allein zuständig.

Auf politischer Ebene ist – weil es sich um eine Uniklinik handelt – der Wissenschaftsminister Falko Mohrs (SPD) zuständig. Als Sozialdemokrat stellt er sich gegen einen Tarifvertrag Entlastung, den etwa die NRW-SPD vehement befürwortet hatte. Aber da sind die Genossen auch in der Opposition.

Die Berliner Charité und die Unikliniken in Nordrhein-Westfalen haben schon einen Entlastungs-Tarifvertrag

Ein TV-E sei hier nicht möglich, weil man dazu aus der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) ausscheiden müsste, lautet seine Verteidigungslinie. Und die TdL stünde in gar keinem Fall zur Disposition.

Denkbar wäre möglicherweise, die MHH in eine andere Rechtsform zu überführen wie in NRW geschehen. Als Körperschaft des öffentlichen Rechtes oder als Stiftung könnte sie eigene Tarifverträge abschließen. „Aber bisher wollte Ver.­di ja nicht, dass die MHH eine Stiftung wird“, sagt MHH-Sprecherin Burow. Davon abgesehen wäre dies eben auch ein längerer und vermutlich ziemlich teurer Prozess.

Ver.di-Vertreter David Matrai räumt ein: Eine Änderung der Rechtsform habe man bisher nicht gefordert. Das sei auf Seiten der Angestellten eben auch mit der Befürchtung verbunden, damit langfristig schlechter gestellt zu werden. Aber möglicherweise sind da ja auch noch gar nicht alle Möglichkeiten ausgelotet, wie es gelingen könnte, im Rahmen der TdL zu einer Lösung zu kommen. Da sei nun eben Kreativität gefragt. „Am Ende ist das auch eine Frage des politischen Willens.“

Die Wut der Pflegekräfte wird sich jedenfalls nicht so leicht wieder einfangen lassen. Am heutigen Mittwoch stehen sie erneut vor dem Landtag und suchen das Gespräch mit der Politik, Ministerpräsident Stephan Weil hat sein Kommen schon angekündigt. Wenn es kein Entgegenkommen gibt, folgt wohl ein neuer Aufruf zum Warnstreik. Den letzten hatte das Arbeitsgericht Hannover kurzfristig kassiert. „Aus eher formalen Gründen“, betont Ver.di-Vertreter Matrai. Beim nächsten Mal wird man schlauer sein. Und dann müsse die Landesregierung schauen, ob sie diese Art von juristischer Auseinandersetzung für eine kluge politische Antwort auf den Frust der Beschäftigten hält.