Kita-Streik in Berlin: Auf dem Rücken der Kinder

Der Streik belaste vor allem Kinder und Eltern, argumentieren Senat und Eigenbetriebe. Dabei gibt es Versorgungsprobleme auch ohne den Streik.

Spielzeugeisenbahn in einer Kita

Die Lokomotive stockt Foto: Petra Schneider/Imago

BERLIN taz | Ob die Kita aufgrund von Streik oder Personalmangel geschlossen sei, mache für sie keinen Unterschied. „Der Streik ist kaum noch eine Extremsituation, so hat sich die gesamte Winterjahreszeit angefühlt“, sagt Mascha Krüger. Im Dezember, als die Krankheitswelle umging, sei ihr Sohn nur eine Handvoll Tage in der Kita gewesen. Krüger ist alleinerziehend, ihr Sohn ist fünf Jahre alt und geht in eine Kita der fünf Berliner Eigenbetriebe in Pankow. Die Einrichtung ist eine der 282 Tagesstätten, die diese Woche bestreikt werden.

Angesichts des 5-tägigen Ausstands mobilisiert die Arbeitgeberseite zunehmend den Unmut der Elternschaft. Der Konflikt, bei dem die Gewerkschaft Verdi den Senat zu Verhandlungen zu einem Entlastungstarifvertrag bewegen will, würde auf „dem Rücken der Kinder, Eltern und Kitas ausgetragen“ werden, heißt es in einer von den Geschäftsleitungen der Eigenbetriebe gestarteten Petition.

Dabei wollen die Er­zie­he­r:in­nen mit dem Entlastungstarifvertrag den Ausnahmezustand lindern, der den Rest des Jahres in vielen Berliner Kitas herrscht: Personalnot, überlastetes Personal, hohe Krankenstände, eingeschränkte Öffnungszeiten, Schließungen. „Eigentlich hat die Kita von 6 bis 18 Uhr auf, davon sind wir aber meilenweit entfernt“, erzählt Krüger. Es werde probiert im Voraus zu planen, „aber oft heißt es dann auch: Morgen haben wir kein Personal.“ Dann heißt es verkürzte Öffnungszeiten oder Schließung, jedes Mal müsse man sich neu darauf einstellen.

Schließungen Kurzfristige Kitaschließungen werden immer häufiger. 2022 gab es 238 Fälle „massiver Personalunterschreitungen“, die eine temporäre Schließung von Kitas zur Folge hatten. Im Vor-Corona-Jahr 2019 waren es 72 Meldungen. Eine Umfrage des Deutschen Jugendinstituts unter Kitaleitungen ergab, dass 2022 vier von fünf Kitas ihre Öffnungszeiten reduzieren mussten. Nach Angaben der Senatsverwaltung gab es 2023 im Trägerübergreifenden Meldeportal 428 Voll- und 553 Teilschließungen. Eine Meldung kann ein bis mehrere Schließtage umfassen. In 2.188 Fällen wurden reduzierte Öffnungszeiten gemeldet.

Krankenstände Eine aktuelle Untersuchung der DAK-Krankenkasse stellt fest, dass sich die krankheitsbedingten Fehltage in allen Branchen 2023 noch erhöht hatten. Er­zie­he­r:in­nen gehören dabei zur Berufsgruppe mit den meisten Fehlzeiten, insbesondere aufgrund psychischer Erkrankungen. Der Eigenbetrieb Nordwest gab für 2023 eine durchschnittliche Krankenquote von 18,8 Prozent an. Verdi spricht auf Basis von Gesprächen mit Kitaleitungen davon, dass Ausfallraten von 25 bis 30 Prozent keine Seltenheit sind. (wah)

Wenn die Kita geschlossen hat, ist Mascha Krüger zwangsweise zu Hause. „Das heißt, dass ich den ganzen Tag arbeiten muss“: neben dem Job muss sie mit dem Kleinen rausgehen, Mittagessen kochen, mit ihm spielen. Bislang arbeitete die alleinerziehende Mutter in Teilzeit, bald muss sie auf Vollzeit gehen, weil der Betreuungsunterhalt, der finanzielle Ausgleich für Alleinerziehende mit jungen Kindern, ausläuft.

Häufig plage sie ein schlechtes Gewissen, erzählt Krüger. „Ich parke ihn oft vor Netflix, seine Medienzeit ist nicht zu vergleichen mit der eines Kindes, das in die Kita geht.“ Wenn sie nicht gerade konzentriert bei der Arbeit sein müsse, könne sie gleichzeitig mit ihm spielen oder die Arbeit kurz unterbrechen. „Aber es ist ein ständiges Jonglieren.“

Corona hinterließ Spuren

Zudem macht sie sich große Sorgen um ihren Sohn. „Seine gesamte Kitazeit war geprägt von sporadischem Kitabetrieb, erst durch Corona, dann durch die häufigen Schließungen und Streiks.“ Dadurch habe er wichtige Entwicklungsschritte verpasst. „Sein Spielverhalten ist komisch, er kann schlecht mit anderen interagieren, weil wir ständig zu zweit zu Hause sitzen.“

Die Coronakrise war nicht nur eine enorme Belastung für Kinder und Eltern, sondern auch für Pädagog:innen. Während sich andere Berufsgruppen im Homeoffice isolieren konnten, mussten Er­zie­he­r:in­nen Gruppen von Kleinkindern betreuen, die weder die Pandemie noch das Konzept von Kontaktbeschränkungen verstanden. Die Pandemie hinterließ bleibende Spuren bei vielen Heranwachsenden, doch der erhöhte Förderbedarf kann von dem Kitapersonal kaum geleistet werden. Dazu kommen mit dem Ukraine­krieg Tausende traumatisierte Kinder, die vorrangig in den Kitas der Eigenbetriebe untergebracht werden.

Neben kurzfristigen Erkältungswellen, die nach Corona besonders häufig durch die Kitas schwappen, sind auch immer mehr Fachkräfte dauerhaft krank. Das steigert die Belastung für den Rest der Belegschaft, von der sich immer weniger in der Lage sehen in Vollzeit zu arbeiten. In dem Eigenbetrieb Kindergärten City beträgt die Teilzeitquote beispielsweise über 57 Prozent.

Keine Vollzeit vorstellbar

Eine aktuelle Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass sich die „überwiegende Mehrheit“ der befragten pädagogischen Fachkräfte unter den gegebenen Arbeitsbedingungen nicht vorstellen kann in Vollzeit zu arbeiten. Im Gegenteil, viele Befragte äußerten den Wunsch, die Stunden noch weiter zu reduzieren.

Krüger ist auch Gesamtelternvertreterin, nach Corona habe sie gedacht, die Zeit der Notbetreuung und ständigen Schließung von Gruppen sei vorbei. Aber es sei immer nur schlimmer geworden. „Also bin ich von Pontius zu Pilatus gegangen“, erzählt sie: von ­Elternbeirat über Bereichsleitung bis hin zur Kitaaufsicht, Bezirks- und Landeseltern­ausschuss Kita. Dort habe sie festgestellt, dass es kei­ne*n interessiert. „Denn auf dem Papier sieht alles in Ordnung aus.“ Formal habe die Kita ihres Sohnes sogar eine Überbelegung, also mehr Päd­ago­g*in­nen als notwendig.

Tatsächlich versucht der Senat die Krise in den Kitas mit dem Hinweis auf die hundertprozentige Beschäftigungsquote zu relativieren. Doch in der Praxis wird die Betreuungsquote aufgrund der hohen Krankenstände und der zunehmenden administrativen Arbeit, die die Er­zie­he­r:in­nen leisten müssen, nur selten eingehalten.

Und selbst wenn, liegt der Schlüssel deutlich unter den wissenschaftlichen Empfehlungen für ein kindgerechtes Betreuungsverhältnis. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem November sind drei von vier Kitakindern unterbetreut. 20.000 Fachkräfte mehr würden benötigt, um den Missstand zu beheben, rechnen die Au­to­r:in­nen vor.

Dass ihr Sohn kaum Bildung bekomme, sei nicht die Schuld der Pädagog*innen, sagt Mascha Krüger. „Die Arbeit, die sie leisten, ist super, aber die Arbeitsbedingungen sind so schlecht, dass sie so oft ausfallen.“ Viele Eltern kritisieren die Streiks, weil sie die Folgen tragen müssen. Sie heiße den Arbeitskampf jedoch gut, sagt Krüger. „Die Streiks sind das letzte Mittel.“ Damit wollen sich viele Eltern jedoch nicht auseinandersetzen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.