Fußball minimal

Wenn Frankreich heute gegen Spanien spielt, treffen zwei Ideen von Fußball aufeinander. Der reduktionistische Stil von Trainer Didier Deschamps hat Nachahmer gefunden – leider

Arbeit ohne Ball: Didier Deschamps beim Gespräch mit Olivier Giroud Foto: Fo­to:­ Hassan Ammar/ap

Aus Dortmund Johannes Kopp

So knapp wie möglich ist der Fußball des französischen Nationalteams am besten mit dem Wort „Minimalismus“ be­schrieben. In der bildenden Kunst war Anfang der 60er Jahre die aufkommende Bewegung des Minimalismus von der Vorstellung geleitet, die Zurückstellung der eigenen Per­sönlichkeit sei das Erstrebenswerteste, das Ergebnis solle für sich selbst sprechen. Es würde nicht überraschen, wenn sich Nationaltrainer Didier Deschamps, der dieses Amt bereits seit 2012 ­bekleidet, als Künstler versteht.

Jedenfalls achtet er mit Strenge im Sinne der Minimal Art darauf, dass die großen Persönlichkeiten in seinem Kader wie Kylian Mbappé oder ­Antoine Griezmann ihre individuellen Ambitionen dem zu erzielenden Resultat unterordnen. Die nicht seltenen Hinweise der französischen Presse auf den geringen Genussgehalt der französischen EM-Auftritte beantwortete Deschamps lässig in etwa mit der Formel: Am Ende spräche das Ergebnis für sich und sein Team. Nach dem Achtelfinalerfolg gegen Belgien stellte der Coach ob des vorsichtigen Herantastens an den gegnerischen Strafraum zufrieden fest: „Wir haben uns nicht in die Falle locken lassen, sondern das Richtige getan.“ Der 55-Jährige, zu seiner aktiven Zeit einer der besten defensiven Mittelfeldspieler weltweit, hat eher einen Blick für die Gefahren als für die Möglichkeiten.

Die französischen Erfolge der letzten Jahre, Vize-Europameister 2016, Weltmeister und Vize-Weltmeister 2018 und 2022, haben dazu geführt, dass die Deschamps-Schule stilprägend geworden ist. Drei der vier Halbfinalisten bei dieser Europameisterschaft können der Fußballbewegung des Minimalismus zugerechnet werden. Lediglich Spanien, der Gegner der Franzosen in München, fällt völlig aus dem Rahmen.

Die Niederländer sind noch im Lernprozess. Beim torlosen Remis gegen Frankreich klappte das Kopieren des Prinzips „Weniger ist mehr“ schon ganz gut, im Achtelfinale gegen Rumänien (3:0) war das Team vor einem gewissen offensiven Überschwang nicht gefeit.

Gareth Southgate aber eifert Deschamps so eifrig nach, als wolle er als der wahre Meister des Minimalismus in die Annalen eingehen. Bei den letzten drei Großturnieren platzierte er sich mit England dank einer sehr kontrollierten Spielweise stets unter den besten acht. In den Statistiken dieser Europameisterschaft ist das englische Team unter den Halbfinalisten bei den Minimalwerten besonders auffällig.

So wenige Abschlüsse (57) und Läufe ins gegnerische Drittel (74) kann nach fünf Spielen niemand sonst aufweisen. Die Spanier liegen mit 102 Abschlüssen und 143 Läufen ins gegnerische Drittel selbstredend am anderen Ende der Skala. Dass England dennoch der Halbfinalist mit dem meisten Ballbesitz (59 Prozent) ist, lässt erahnen, wie häufig und wirkungslos in deren Partien der Ball hin- und hergeschoben wurde. Selbst die englische Kurve reagierte während dieses Turniers darauf mit gellenden Pfiffen. Southgate lässt sich von so etwas jedoch nicht beirren. Nach dem torlosen Remis gegen Slowenien in der Vorrunde schien er fast noch glücklicher zu sein als die euphorisierten Fans des Außenseiters. Er lobte seine Elf über alle Maßen, wie gut sie diese Partie unter Kontrolle gehabt hätte. South­gate vermittelte den Eindruck, sein Team sei da gerade ein außergewöhnliches Kunstwerk gelungen.

Die Deschamps-Schule ist erfolgreich – und längst stilprägend geworden

Nur beim Verhältnis Tore und Ertrag bleibt Frankreich state of the art. Rechnet man das Elfmeterschießen gegen Portugal heraus, hat Frankreich ein selbst geschossenes Tor gereicht, um ins Halbfinale zu kommen. Es war der Strafstoß von Mbappé gegen den Gruppenletzten P­olen. Chapeau!

Auf seine Weise ist das durchaus beeindruckend, lässt man mal das Publikum außer Acht. Aber wer will das schon? Und wer möchte schon, dass sich noch mehr Teams diesen reduktionistischen Stil aneignen? Die Hoffnung ruht nun allein auf dem spanischen Expressionismus, dem man dringend Nacheiferer wünschen würde.