Die Straße gehört ihnen

Vor wenigen Jahren fuhr in Moldaus Hauptstadt Chișinău so gut wie niemand mit dem Rad. Nun gibt es sogar eine geschützte zweispurige Fahrradstraße. Zu Besuch bei den Menschen, die das erreicht haben

Sie hat Visionen und sie verfolgt sie: Ana Popa auf der neuen Fahrradstraße von Chișinău Foto: Clara ­Vuillemin

Aus Chișinău Clara Vuillemin (Text und Foto)

Wollen Sie ein bisschen gute Laune? Dann kommen Sie mit nach Chiși­nău, in die Hauptstadt Moldaus, des finanziell ärmsten Lands Europas. Als die UNO vor einigen Jahren in einer globalen Studie erforscht hat, ob die Weltbevölkerung den Klimawandel als Bedrohung anerkennt, landete Moldau beim Problembewusstsein von 50 untersuchten Ländern auf Platz 50. Und so erscheint es wie ein kleines Wunder, was es seit Kurzem in Chișinău gibt: eine erste zweispurige, schlaglochfreie, von Autos und Fußgängern abgetrennte, über drei Kilometer einmal quer durchs Zentrum führende Fahrradstraße. Die Geschichte, wie es dazu kam, erzählt davon, dass wenige viel erreichen können – wenn Taktik und Timing stimmen.

Ana Popas Laune ist prächtig, als sie an diesem Freitag in der Abendsonne an der Kreuzung Strada Pușkin/Strada 31 August 1989 steht und sieht, wie viele Menschen vorbeiradeln. Dieser Anblick ist neu und er ist nicht zuletzt ihr Verdienst als Fahrradaktivistin. Denn Popa sitzt nicht bloß rum und sinniert über die Polykrisen unserer Zeit. Obwohl es dafür auch in Moldau viele Gründe gäbe. Neben dem winzigen Umweltbewusstsein im Land ist da auch noch die große Angst vor einer russischen Invasion, der Frontverlauf in der Ukraine ist nur etwas mehr als 200 Kilometer von Moldaus Grenze entfernt. Oder der Gaspreis. Er hatte sich nach dem russischen Totalangriff verfünffacht, noch immer ist er dreimal so hoch wie Anfang 2022.

Ana Popa grüßt links und rechts Menschen. Einige sind auf Rädern unterwegs, wie Viktor, der anhält und auf Russisch erzählt, wie viel Zeit er auf seinem Arbeitsweg durch die neue Fahrradstraße einspare. Andere gehen zu Fuß, wie Octavian, der kein Rad hat, aber darüber nachdenkt, eines zu kaufen, trotz der Angst vor den Gefahren des Straßenverkehrs. Er zeigt auf ein weiß angemaltes, mit Blumen geschmücktes Fahrrad, ein sogenanntes Ghost Bike, mit dem eines Jugendlichen gedacht wird, der von einem betrunkenen Autofahrer getötet wurde.

„Fahrradfahren in Chișinău ist wie ein konstanter Existenzkampf“, sagt Ana Popa. Noch. Denn wenn es nach ihr geht, ist die Infrastruktur für die Mikromobilität in Zukunft so gut, dass die Menschen von alleine die Vorteile des Fahrrads erkennen. Und zwar alle, nicht nur die jungen, hippen, körperlich fitten. Sie selbst, 31 Jahre alt, hat kein Problem, sich zwischen den Autos durch die chronisch verstopften Straßen Chișinăus zu schlängeln. „Ich fühle mich wohl auf der Straße, denn ich tue das schon so lange.“

Popa hat das Fahrrad früh entdeckt. Sie lebte mit ihren Eltern in Jasch, einer rumänischen Stadt nahe der Grenze zu Moldau, und war das einzige Kind, das mit dem Rad zur Schule fuhr. Ihr Fahrrad gab ihr damals zweierlei: Autonomie, die es ihr erlaubte, auch abends, wenn keine Busse mehr fuhren, Freundinnen und Konzerte zu besuchen. Und die Sicherheit, als junge Frau auf dem Weg nach Hause schneller zu sein als irgendwelche Männer, die möglicherweise in der Dunkelheit lauerten.

Wie viele junge Moldawierinnen ging Ana Popa nach der Schule ins Ausland, in Polen und Italien studierte sie Kulturmanagement, Menschenrechte und Politik. „Ich habe Moldau gehasst, ich wollte nie wieder hierher zurückkommen. Doch dann erkannte ich, dass es viel spannender ist, Dinge zu ­implementieren, wo es sie noch nicht gibt.“ Seit sechs Jahren lebt Popa in Chișinău.

Die Stadt ist grün, sauber und postsowjetisch. Auf dem Gehsteig sitzen Frauen mit Kopftüchern vor Kisten mit Erdbeeren, Kirschen, Dill und Gurken. Die Trolleybusse, in denen stets zwei Menschen arbeiten, ein Fahrer und ein Fahrscheinverkäufer, sind umgeben von Autos, die viel zu groß wirken. Ana Popa erklärt die erstaunliche Menge an SUVs so: „Die Menschen haben so lange in Armut gelebt und ein Auto ist eine Möglichkeit, das zu kompensieren. Damit zeigst du den anderen, dass du Geld hast.“

Doch das wichtigste Verkehrsmittel bleiben die Busse. Als dann 2020 mit der Coronapandemie die Angst vor einer Ansteckung im dichten Gedränge der öffentlichen Verkehrsmittel aufkam, tat sich ein Möglichkeitsfenster für das Fahrrad auf. Popa und ein paar Mitstreiterinnen starteten eine Petition für Pop-up-Fahrradwege.

Die war zwar nicht erfolgreich, doch es war der Anfang einer wachsenden Bewegung urbaner Fahrradfahrerinnen, die sich in der Alianța Biciclete Chișinău, der Fahrrad-Allianz von Chișinău, zusammengeschlossen haben. Ihre Themen: Fahrradständer, Trails für Touren außerhalb der Stadt, die monatliche Fahrraddemo Critical Mass – und Aufklärung. Nachdem die Stadt den Radfahrern erlaubt hatte, die Busspuren mitzubenutzen, hat Popa jedes Busdepot dreimal persönlich besucht, um die Busfahrerinnen daran zu erinnern.

Der bisher größte Erfolg ist jedoch der abgepollerte Fahrradweg. Als die Stadt die ursprünglichen Sanierungspläne für die Strada 31 August 1989 veröffentlichte, waren die Aktivistinnen entsetzt, erzählt Ana Popa. Die Straße war damals einspurig, links und rechts gesäumt von Parkplätzen. Die ursprüngliche Idee der Stadtverwaltung war es, die Parkplätze abzuschaffen und stattdessen eine zweite Fahrspur für Autos zu bauen – obwohl das Projekt den Namen „Green Corridor“ trug.

Bei der öffentlichen Anhörung trat also eine Handvoll gut vorbereiteter Mitglieder der Alianța Biciclete ans Mikro und erklärte der Stadtverwaltung, warum ein solcher Plan auf keinen Fall grün genannt werden könne – und die Verantwortlichen hörten zu. Das Projekt wurde komplett neu aufgesetzt und die Aktivistinnen bekamen, was sie sich gewünscht hatten. Ende 2023 wurde die Straße fertiggebaut, in diesem Frühjahr und Sommer wird sie also zum ersten Mal richtig genutzt.

Doch warum ging die Stadt auf die Fahrradfahrer ein, wo es nur wenige gibt und dafür eine Menge Autofahrer, die um jeden Quadratmeter Fahrbahn kämpfen? „Wir sind nicht isoliert, wir leben nicht in einer Bubble“, sagt Ana Popa. „Unsere Regierung sieht die europäischen Trends und kann sie nicht einfach ignorieren.“ Amsterdam, Kopenhagen, neuerdings Paris, immer mehr Städte setzten konsequent aufs Fahrrad, das ist ansteckend und hat eine Ausstrahlung. Bis nach Moldau.

Auch Julian Gröger, 42, ist in Chișinău, weil sich hier etwas bewegt. Der Deutsche lebte mit seiner damaligen moldauischen Frau in Berlin, als er eine ähnliche Erkenntnis wie Ana Popa hatte. „Ich habe Umweltmanagement studiert und bin damit in Deutschland einer von zehntausend“, sagt er. „Hier ist der Bedarf viel größer.“ Seit sieben Jahren ist Gröger nun in Chișinău, wo er mit seiner NGO Ecovisio Dutzende Umweltprojekte initiiert und begleitet hat.

„Moldaus Regierung sieht die europäischen Trends und kann sie nicht einfach ignorieren“

Ana Popa, Radaktivistin

Am Anfang ging es dabei vor allem um Entsorgung und Recycling. Seit sich nach Russlands Überfall auf die Ukraine die Energiepreise vervielfacht haben, versucht er Energieeffizienz und Gebäudedämmung voranzutreiben. „Wir gehen mit dem Flow und setzten auf die Themen, die gerade aktuell sind.“ Seit Corona setzt Gröger sich für Fahrräder ein. „Vor 2020 waren wir in Chișinău vielleicht zehn Menschen, die regelmäßig Fahrrad fuhren.“

Ana Popa und Julian Gröger haben eine Reise mit hochrangigen Vertretern der Stadtverwaltung organisiert, um ihnen die Fahrradinfrastruktur in Berlin zu zeigen. Auf den ersten Blick eine originelle Wahl, gibt es doch viele Städte, die in dieser Hinsicht mehr zu bieten haben. Doch Ana Popa meint: „Was will mir die Verwaltung in Amsterdam zeigen? Schaut mal, wie perfekt hier alles ist? Wir brauchen als Vorbild Städte, die work in progress sind, so wie Berlin.“

Moldau ist wie die Ukraine seit 2022 Beitrittskandidat der EU. Ende Juni wurden offiziell die Beitrittsgespräche aufgenommen. Die Fahrradaktivisten von Chișinău gehen davon aus, dass in Zukunft viel mehr Geld aus dem Westen in das kleine Land strömt und damit, so die Hoffnung, ökologische Infrastruktur ermöglicht wird. Doch das hängt auch von der Entwicklung in Brüssel ab.

Julian Grögers und Ana Popas Hoffnung ist, dass das Land nicht alle Fehler westeuropäischer Städte wiederholen muss. Die Stadt hat nicht die Infrastruktur, um wachsende Zahlen von Privatautos aufzunehmen. „Doch anstatt Straßen und Parkplätze auszubauen wie in Deutschland in den 60ern, 70ern und 80ern, könnte sich auch die Erkenntnis durchsetzen, dass die meisten europäischen Städte aktuell versuchen, Autos loszuwerden“, sagt Gröger. Dann hätte Chișinău die Chance, ein paar Entwicklungsschritte zu überspringen und gleich zur Fahrradstadt zu werden.