Wahlen in der Ukraine unter Kriegsrecht: Eine Frage der Legitimität

Am 20. Mai ist die Amtszeit des ukrainischen Präsidenten Selenskyj abgelaufen. im Krieg dürfen keine Wahlen stattfinden. Russland schlachtet das aus.

Selenskyj mit schusssicherer Weste

Auf diesem vom Pressebüro des ukrainischen Präsidenten am 22. Mai 2022 zur Verfügung gestellten Foto besucht Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, die vom Krieg betroffene Region Charkiw Foto: Ikranian Presidential Press Office/dpa

LUZK taz | Die nächsten Präsidentschaftswahlen in der Ukraine wären in diesen Tagen fällig gewesen. Doch wegen des geltenden Kriegsrechts im Land fanden bislang keine Wahlen statt. Wolodymyr Selenskyj, der 2019 gewählt wurde, bleibt erst einmal im Amt. „Meine fünf Jahre sind noch nicht vorbei, wegen des Kriegsrechts dauern sie noch an“, sagte der Präsident gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.

Die Diskussion über die Legitimität Selenskyjs wird in Russland weidlich ausgeschlachtet. Präsident Wladimir Putin flog am 24. Mai in die belarussische Hauptstadt Minsk und sagte, er gehe davon aus, dass die Legitimität des ukrainischen Präsidenten „erloschen“ sei. Nach einem Treffen mit dem belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko sagte Putin, wenn die Zeit für Friedensverhandlungen gekommen sei, „wird man verstehen müssen, mit wem man es zu tun hat, denn Selenskyjs Legitimität ist vorbei“.

Einige Tage zuvor hatten Unbekannte das Ukrainische Haus in Warschau (ein Kulturzentrum für ukrainische Geflüchtete) und das Grab des Führers der Organisation Ukrainischer Nationalisten Stepan Bandera in München mit identischen Aufschriften versehen: „Wir brauchen Wahlen!“ Die Autoren deuteten an, dass die Ukrai­ne­r*in­nen angeblich Neuwahlen fordern.

„Es besteht kein Zweifel daran, dass Russland versucht, die Situation auszunutzen, um Selenskyj zu diskreditieren“, schreibt der ukrainische Publizist Witaly Portnikow: „Aber vergessen wir nicht, wie der Kreml im März seine sogenannten Wahlen durchgeführt hat.“

Kein Zufall

Es ist kein Zufall, dass Putins Äußerungen und die provokativen Aufschriften gerade jetzt auftauchen. Gemäß der Verfassung der Ukraine ist die Amtszeit des Präsidenten auf fünf Jahre begrenzt. Daher hätten Selenskyjs Befugnisse am 20. Mai 2024 enden müssen.

Gleichzeitig sieht Artikel 108 der Verfassung vor, dass der Präsident seine Pflichten bis zur Wahl eines neuen Staatsoberhauptes erfüllen muss. Die Wahlen wurden nun aufgrund des Kriegsrechts verschoben. Ein einfaches Gesetz verbietet die Abhaltung von Wahlen, während Kriegsrecht gilt.

Einige Politiker im Westen, insbesondere der republikanische US-Senator Lindsey Graham, hatten gefordert, dass die Ukrainer trotz des russischen Angriffskrieges Wahlen abhalten sollten. Selenskyj antwortete im August 2023, dass es für Wahlen notwendig sei, schnell Änderungen an der Gesetzgebung vorzunehmen. Zudem würden zusätzlich 5 Milliarden Hriwna (umgerechnet 1,1 Milliarden Euro) gebraucht, um die Wahl durchzuführen.

Außerdem müssten ausländische Beobachter an die Front geschickt werden, damit das Militär abstimmen könne, und der Wahlprozess im Ausland organisiert werden. Millionen Ukrai­ne­r*in­nen haben das Land wegen des Krieges verlassen. „Ich klammere mich an nichts. Ehrlich gesagt würde ich gerne Wahlen abhalten“, sagte Selenskyj.

Eindeutige Reaktion

Im Westen besteht kein Zweifel an der Legitimität Selenskyjs. „Für Deutschland bleibt Selenskyj ein Staatschef mit allen Vollmachten“, sagte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock unlängst bei einem Besuch in Kyjiw im Mai.

Selbst die Reaktion der Opposition in der Ukraine ist eindeutig: Selenskyj müsse weiterhin Präsident bleiben, es sei unmöglich, faire Wahlen unter den Bedingungen des Kriegsrechts abzuhalten. Denn erstens würden die Wahldebatten das Land destabilisieren. Zweitens ist es unmöglich, die Wahl für Soldaten zu organisieren sowie am Wahltag selbst wegen ständiger russischer Angriffe die Sicherheit im gesamten Land zu gewährleisten.

Ver­tre­te­r*in­nen der Opposition sind sich einig, dass es nicht um die Persönlichkeit des Staatsoberhauptes gehe, sondern um die Stabilität der Institution: Jegliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Selenskyjs Amtszeit im Kontext eines genozidalen Krieges um die Unabhängigkeit des Staates seien kriminell, heißt es. Dem Team um Selenskyj wird jedoch vorgeworfen, dass es sich nicht rechtzeitig an das Verfassungsgericht gewandt hat, um eine rechtliche Bestätigung der Legitimität zu erhalten.

Im Februar hatten Medien berichtet, dass sich das Präsidialamt mit folgenden Fragen an das Verfassungsgericht habe wenden wollen: Erlaubt die ukrainische Verfassung Wahlen unter Kriegsrecht und was wird mit der Legitimität des Präsidenten nach dem 20. Mai 2024 geschehen? Doch dazu sei es nicht gekommen.

Justizminister Denis Maluski sagte Anfang Mai in einem Interview mit der BBC, dass eine solche Anfrage „ein großer Fehler ­gewesen wäre“. Sie hätte Zweifel gesät, was unter Kriegsbedingungen gefährlich sei. ­Parlamentspräsident Ruslan Stefanchuk riet denjenigen, die an der Legitimität zweifeln, sich an das Verfassungsgericht zu wenden. In einem anderen Interview äußerte sich der Sprecher härter: Er nannte die­jenigen, die Selenskyjs Legitimität infrage stellen, „Staatsfeinde“.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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