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Weltoffenes Sachsen für den Freiberger Stadtrat

In der erzkonservativen Stadt setzt sich das Bündnis „Freiberg für alle“ für eine linkere Kommunalpolitik ein. Das stößt nicht überall auf Begeisterung

Aus Freiberg Michael Bartsch

Seit fünf Jahren kann das Bündnis „Freiberg für alle“ als eine Marke gelten. 2019 entstand es im Landtagswahljahr und unter dem Eindruck des AfD-Erfolges bei der Bundestagswahl 2017. In der traditionsbewussten, aber auch stockkonservativen Bergstadt (wo im Jahr 1168 der Aufstieg Sachsens als Erzbergbauregion begann) will man allen Nicht-Rechten eine Plattform und Stimme geben. Und sich um marginalisierte Gruppen wie Flüchtlinge kümmern. Jetzt geht „Freiberg für alle“ nicht nur einen Schritt, sondern einen Sprung weiter. Zur Wahl der 34 Stadträte am 9. Juni tritt das Netzwerk mit 26 eigenen Kandidaten an.

Vor etwa einem Dreivierteljahr habe man sich entschlossen, sich direkt auf der Entscheidungsebene einzumischen. Dort, „wo die Musik spielt“, berichtet die an der Bergakademie promovierte Mineralogin und Geochemikerin Jana Pinka. Die Sechzigjährige saß bis 2019 für die Linke im Sächsischen Landtag und ist im Bündnis die einzige Politikerin mit langjähriger Stadtratserfahrung. Zunächst habe sie versucht, SPD, Linke und Grüne zu einer „breiten Front“ mit dem Bündnis zu vereinen. Auch aus Sorge, es könne nach der Kommunalwahl kaum noch eine linke Partei in Stadtrat und Kreistag vertreten sein. Sie stieß aber auf Skepsis, weil die Angesprochenen eine Schwächung ihrer Partei befürchteten.

Nun präsentiert sich das Bündnis selbst den Freiberger Wählerinnen und Wählern mit einem kurzen, griffigen Programm. Das sollte sowohl ratlose, unentschlossene Wähler als auch potenzielle Stadtratskandidaten ansprechen. Deren Mischung kann kaum bunter ausfallen. Bekanntestes Gesicht ist vielleicht Armin Müller, den die Freiberger mit Solarworld verbinden und der mit der Deutschen Lithium GmbH Vorkommen im Osterzgebirge erschließen wollte. Eine Syrierin ist dabei, Juristinnen und Juristen, die Alumni-Koordinatorin der Bergakademie, Studenten, ein Freimaurer, ein Religionspädagoge, Krankenpfleger und weitere Wirtschaftsvertreter.

Seinen zivilgesellschaftlichen Charakter wird „Freiberg für alle“ nicht ändern. Während der Coronazeit spendeten Künstler Bilder für die Aktion „Kunst sei Dank“. Der Versteigerungserlös von 10.000 Euro wurde an medizinisches Personal verschenkt. Es bleibt beim monatlichen „Begegnungsmarkt“ auf dem Obermarkt mit dem von einem Bäcker gespendeten Kuchen. „Die Leute wollen reden“, konstatiert Jana Pinka.

Für sie ist der progressive Akzent wichtig, „schon e bissel links von der Mitte“ in einer Stadt, in der sich die CDU mit ihren so genannten Freiberger Thesen den Positionen der AfD näherte. Und die vor allem für ihre knallhart rechte Politik bekannt ist. So hat der Stadtrat im Jahr 2018 fast einstimmig einen Zuzugsstopp für Asylbewerber beschlossen. Im Jahr drauf dann haben die drei Gesellschafter des Theaters, darunter die Stadt Freiberg, politische Diskussionen im Programm untersagt. Zum Bild passt, dass während der Pandemie dann tausende Gegner der Coronaschutzmaßnahmen demonstrierten oder Oberbürgermeister Sven Krüger (parteilos, früher SPD) im Vorjahr eine Rede auf dem Opernball in St. Petersburg hielt.

Jana Pinka sind die Risiken dieser Bewerbung um kommunale Mandate bewusst. Vergleichbar seien nur die Erfahrungen anderer freier Wählergruppen. „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht“, zitiert sie Franz Kafka. Den gleichen Weg wollen in Sachsen auch das Bündnis „Grimma zeigt Kante“ und ein ähnliches Projekt in Kamenz gehen, allerdings ohne den starken Vorlauf von „Freiberg für alle“. Hier hofft man auf fünf Stadtratsmandate, und das Wahlergebnis werde zeigen, ob dieser Weg ins entscheidende Kommunalparlament richtig war.

Erwartungsgemäß war man über Pinka bei der Linken „not amused“. Aber die bei einem Ingenieurbüro weltweit tätige Ur-Freibergerin ist überzeugt, dass sich der Ärger im neuen Stadtrat bald legen und die Zusammenarbeit mit den Parteien gut funktionieren wird. Eigentlich will sie Bürger sogar ermuntern, aus dem Bündnis heraus wieder in Parteien zu gehen.

Die Politisierung von „Freiberg für alle“ bedauerten beispielsweise Pfarrer Michael Stahl und Theaterintendant Sergio Raonic Lukovic, beide bislang Unterstützer des Bündnisses. Nun verspüren sie eine Kollision mit ihrer Neutralitätspflicht. Jana Pinka schätzt beide sehr, wird aber in dieser Frage fast ein bisschen schroff: „In einer Gesellschaft, die sich gerade falsch entwickelt, muss ich das Neutralitätsgebot hinter mir lassen!“

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