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Soziale Ungleichheit in DeutschlandFast 18 Millionen von Armut bedroht

Armut in Deutschland bleibt auf hohem Niveau. Mehr als je­de*r Fünfte ist gefährdet. Etwa 7 Prozent sind von erheblicher materieller Entbehrung betroffen.

Über 20 Prozent der Gesellschaft sind von Armut bedroht, darunter viele Kinder Foto: Fernando Gutierrez-Juarez/dpa

Wiesbaden afp | Rund ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland ist weiterhin von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. 17,7 Millionen Betroffene gab es im vergangenen Jahr, teilte das Statistische Bundesamt am Mittwoch in Wiesbaden mit. Der Anteil an der Bevölkerung betrug 21,2 Prozent. Gegenüber dem Vorjahr blieben die Zahlen nahezu unverändert. 2022 waren 17,5 Millionen Menschen oder 21,1 Prozent der Bevölkerung betroffen.

Als von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht gilt, wer ein Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze hat, dessen Haushalt von erheblichen materiellen und sozialen Entbehrungen betroffen ist oder wer in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung lebt.

Knapp 14,3 Prozent der Bevölkerung waren demnach 2023 armutsgefährdet. Ein Mensch gilt als armutsgefährdet, wenn er über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. Im vergangenen Jahr lag die Schwelle für einen Alleinlebenden bei 1.310 Euro netto im Monat. Bei zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lag er bei 2.751 Euro netto im Monat.

6,9 Prozent der Bevölkerung waren von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen. Konkret bedeutet das, dass die Lebensbedingungen der Betroffenen wegen des fehlenden Geldes deutlich eingeschränkt waren. Sie waren beispielsweise nicht in der Lage, ihre Rechnungen zu zahlen.

9,8 Prozent der Bevölkerung unter 65 Jahren lebten in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung. Diese Situation liegt vor, wenn die Erwerbsbeteiligung der erwerbsfähigen Haushaltsmitglieder zwischen 18 und 64 Jahren im Jahr vor der Erhebung weniger als 20 Prozent betrug.

Für die EU lagen für 2023 nur wenige Daten aus anderen Ländern zum Vergleich vor. Von den bislang vorliegenden Ergebnissen war der Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohter Menschen in Tschechien mit 12 Prozent am niedrigsten. Vorläufiger Spitzenreiter war Bulgarien mit 30 Prozent. 2022 lag Deutschland mit einem Anteil von 21,1 Prozent knapp unter dem EU-Schnitt von 21,6 Prozent.

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13 Kommentare

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  • Armut - wenn man das so nennen kann - ist gesamtgesellschaftlich betrachtet der Standard. Wenn die Gesellschaft außer denen, die nicht für Ihren Lebensunterhalt sorgen KÖNNEN, auch all die , die nicht (mit ihrer Hände Arbeit) für ihren Lebensunterhalt sorgen WOLLEN, unterstützt ... dann ist es halt gesamtgesellschaftlich Standard.



    Die Gesellschaft zieht vorne am Hemd und es rutscht hinten aus der Hose. Wundert sich, zieht hinten am Hemd und es rutscht vorne aus der Hose. So what?

    • @Mal Nombre:

      Jedesmal diejenigen als Beispiel zu bemühen, die angeblich nicht arbeiten wollen, freut zwar die Claqueure in der rechten Ecke, trägt aber nichts zur Lösung des Problems bei, denn erstens sind das weniger, als die meisten glauben, und zweitens will man die als Arbeitskollegen gar nicht haben. Aber auch die geben ihr Geld aus und es fließt zurück in die Wirtschaft. Das ist immer noch besser, als wenn das Geld auf einem Konto vergammelt.

  • Armut ist ja nun wahrlich kein neues Phänomen. Ich nehme an, dass 20% der Menschen schon seit Jahrtausenden in Armut leben. Die relative Armutsschwelle von "weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung" ist jedoch irreführend, denn je höher das mittlere Einkommen ist, desto höher liegt die Armutsschwelle. Ehrlicher wäre, die Armutsschwelle in Kaufkraftäquivalenten relativ zu einem speziellen Warenkorb zu berechnen. Eine solche Definition gibt es bereits seitens der Weltbank für extreme Armut.

  • Könnten wir endlich mal die Beschönigungen: "Von Armut gefährdet/bedroht" begraben? Diese Leute sind arm, sonst nichts. Es reicht hinten und vorne nicht bei mehr als jeder fünften Person. Ist wirklich das Wichtigste für die Leute, die besonders arm sind, dass sie ihre Rechnungen nicht zahlen können oder wollen sie sich lieber mal satt esssen? Es reicht, aber sowas von. Die oberen 10.000 sollen endlich mal was abgeben und sich obendrein schämen.

    • @Patricia Winter:

      Nehmen wir an, die "oberen 10.000" geben die Hälfte Ihres Ersparten ab. Das Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland liegt bei ca. 7,5 Billionen Euro. Verteilt man die Hälfte davon (3750 Mrd. Euro) auf 84 Millionen Einwohner, erhielte jeder Einwohner ca. 44.600€. Was würden die Leute damit machen? Einkaufen gehen? Wie lange würde es wohl dauern, bis das Geld wieder in den Taschen der "oberen 10.000" landet? Was meinen Sie? 3 Jahre? 5 Jahre?



      Wenn Sie der Meinung sind, das bringe etwas, dann versuchen Sie, es umzusetzen! Wir sind alle gespannt, was dabei herauskommt.

  • Knapp fünf Prozent aller in Deutschland lebenden Personen hat keinen qualifizierten Schulabschluss. Gibt es zwischen diesen beiden Themenfeldern vielleicht einen starken Zusammenhang?



    Beide Probleme (Armut und Schule) sind komplexe Bereiche. Mal liegt es am Angebot, mal an der eigenen Fähigkeit, mal am persönlichen Schicksal. Daher gibt es auch keine allgemeingültige Lösungen.

    • @Mopsfidel:

      Wenn 5% aller in Deutschland lebenden Personen keinen qualifizierten Schulabschluss haben, aber 20% in Armut leben, liegt es wohl nicht nur am fehlenden Schulabschluss.



      Es ist auch ein fataler Irrtum zu glauben, mit ein bisschen Bildung werde man automatisch Millionär. Bei vielen klappt das nicht einmal mit abgeschlossenem Studium. Jeder kann reich werden, aber nicht alle.

    • @Mopsfidel:

      Um es klar zu sagen, jeder Arme ist in unserem Land einer zuviel. Vergessen werden darf aber nicht, dass es in den letzten Jahren mehrere Millionen Zuwanderer gab, die sicherlich nicht gleich auf der finanziellen Sonnenseite des Lebens gelandet sind und in der Statistik natürlich auch auftauchen.



      Der größte Kritikpunkt ist aber die Definition von Armut, die dieser Statistik zugrunde liegt. Gibt man jedem EInwohner Deutschlands eine Million Euro, ändert sich - nach dieser Statistik - an der Anzahl der Armen genau nichts. Es sind genauso viele Menschen arm, obwohl sie eine Millionen € zum Ausgeben haben. Diese Definition ist schon etwas schräg und öffnet der Manipulation Tor und Tür...

      • @Bommel:

        "Jeder Arme ist ... einer zuviel." Ideale sind so eine Sache. Da, wie Sie ja schreiben, die Einkommensmitte den Maßstab für relative Armut begründet, bedeutet das natürlich, dass die meisten Einkommen- wollte man diese Armut abschaffen- auch nah zusammenliegen müssen.



        Wäre das schlimm? Ich befürchte, dass dieses Ideal mit dem Grundprinzip der sozialen Marktwirtschaft nicht so recht zu vereinbaren ist.

    • @Mopsfidel:

      Würde da keinen zwingenden Zusammenhang sehen. Nur als Beispiel, derzeit sind etwa 200.000 Menschen mit Studienaabschluss arbeitslos gemeldet, also defacto trotzdem arm. Die Armut und das Elend hat sich (dank neoliberaler Politik) längst bis in die Mitte reingefressen. Da hilft es überhaupt nicht auf Abschlüsse oder Qualifikationen zu schauen, sondern wieder den gesellschaftlichen Reichtum richtig zu verteilen.

  • 17,7 Mio. Menchen bzw. 21,2 Prozent sind armutgefährdet. Ich würde sagen, dass ist eine risikoreiche Situation und bedürfte Maßnahmen, damit diese Risiken wieder sinken. Mag natürlich sein, dass in dieser Zahl viele Studenten und Flüchtlinge drinnen sind, die eben temporär arm sind oder arm sein müssen, aber es ist insgesamt für mein Empfinden viel zu hoch. Dazu kommen dann ja die Konsequenzen, wie etwa die Abhängigkeit vom Jobcenter, bzw. das Fehlen von Wohnraum, Zugang zu Sport, zu Freizeitmöglichkeiten, keine Urlaube. Die Zahlen selber sagen ja nur sehr begrenzt etwas aus, aber die vielen Konsequenzen für die Menschen schreiben dann ja ihre eigenen Geschichten. Ich würde auch sagen, dass der Niedriglohnsektor und die staatliche Politik hierzu, diese 'Armut' erzeugt und stabilisiert. Ohne die niedrigen Löhne wären nicht so viele Menschen so arm.

    • @Andreas_2020:

      Ich finde den Beitrag der Hans-Böckler-Stiftung dazu immer wieder passend:



      www.boeckler.de/de...-bedeutet-6727.htm

      Der Begriff der Armut ist umstritten wie umkämpft. Und meist ist von der relativen Armut die Rede. Denn in absoluter Armut, wenn nicht einmal mehr die Grundbedürfnisse gedeckt sind, leben in Deutschland circa 800.000 Personen. Auch das ist nicht gerade wenig.

      Aber wenn 17,5 Millionen Menschen wirklich ernsthaft von Armut betroffen wären, würde es hierzulande ganz anders aussehen. Das soll die Lage zwar nicht relativieren, daher auch der Hinweis der Böckler-Stiftung: umkämpft und umstritten.

  • Jetzt werden gewiss wieder allerlei Stimmen aus den neoliberalen Lagern davon schwafeln Armut hier sei ja auf einem so hohen Einkommensniveaus dass es ja keine echte Armut sei.



    Dem möchte ich schon jetzt entgegenhalten dass es um gesellschaftliche Spaltung geht und darum, dass eine große Gruppe unserer Gesellschaft von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen wird.