: Es gibt immer eine Lösung
Keiner hat die Kreativität und den historischen Optimismus der Neuen Linken so verkörpert wie er. Zum Tod des Soziologen und Philosophen Oskar Negt
Von Stefan Reinecke
Alexander Kluge, Jurist, SPD-Mitglied, Autorenfilmer, damals Mitte dreißig, war im Mai 1968 in der Frankfurter Universität. Es herrschte kreatives Chaos. Studenten hatten die zur Karl-Marx-Uni umgetaufte ehrwürdige Institution besetzt, Türen waren zerbrochen. Die Studenten, so Kluge, neigten zu „auf Konkurrenzprinzip fußenden, sich gegenseitig steigernden radikalen Formulierungen“. Extremer geht immer – die fatale Dynamik der akademischen Linken. Mittendrin hielt Oskar Negt, damals Assistent von Jürgen Habermas, als ruhender Pol Vorlesungen über Philosophie. „Er integrierte durch die Herstellung von Zusammenhang, nicht durch Beschneiden“, so Kluge.
Die Neue Linke richtete sich bald darauf in einer Phantasiewelt ein, in operettenhaften Reinszenierungen der Weimarer Republik mit einer imaginären Arbeiterklasse. Negt tat das Gegenteil. Er veröffentlichte 1968 sein – wie er fand – einflussreichstes Buch „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung“. Das war der geglückte Versuch, Kritische Theorie mit Gewerkschaftsarbeit in der Bundesrepublik der sozialliberalen Ära zu verbinden, die IG Metall mit Adorno. Es war Ausdruck einer fundamentalen Überzeugung: Es geht darum, lebendige Zusammenhänge herzustellen. Recht haben ist schön, aber zweitrangig.
Während in Seminaren um die korrekte Auslegung von Gramscis Begriff des organischen Intellektuellen gerungen wurde, gründete Negt in Hannover eine experimentelle neue Schule, speiste seine Ideen in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit ein und war Spiritus Rector des Sozialistischen Büros. Das war nicht nach Kadern, sondern nach Berufssparten organisiert, weil die konkrete Erfahrung mit Arbeit im Zentrum stehen sollte. In den 70er und 80er Jahren verkörperte Negt jenen organischen Intellektuellen, nach dem in den neuen Elfenbeintürmen sehnsüchtig gefahndet wurde.
Viele 68er wie Hans Magnus Enzensberger oder Peter Schneider beugten sich später verwundert über das, was sie damals so gedacht hatten. Manche wurden Konservative. Negt nicht. Er hatte nichts zu bereuen. Er verfügte immer über ein klares politisches Unterscheidungsvermögen. 1972, als viele Linke Gewalt für eine diskutable Möglichkeit hielten, kündigte er der RAF jede Solidarität auf. Das erforderte, heute schwer vorstellbar, Mut.
Negt war und blieb Marxist. Nicht in der eisernen, leninistischen Fasson, sondern in der flüssigen, offenen Art von Karl Korsch, einem mittlerweile in Vergessenheit geratenen kommunistischen Philosophen. Negts Denken kreiste um den Begriff Arbeit, den er aus den Verengungen der fordistischen Fabrikgesellschaft und der „Wenn dein starker Arm es will“-Bilderwelt befreite und zu allen humanen Tätigkeiten öffnete, vor allem Bildung und Wissensproduktion. Er schrieb Dutzende Bücher, über Intellektuelle und Gewerkschaften, Europa und Philosophie, die SPD und die Romantik, und seine Leitsterne Marx und Kant. Ein Kritiker hat ihn als Theoretiker mal ungnädig mit einem Ackergaul verglichen, zuverlässig, aber langsam.
Negt war als Denker immer solide, nie genial. Das war nicht schlimm – an unsoliden Genies war in der Linken kein Mangel. Er war ein Erfahrungswissenschaftler, mehr als ein Theoretiker. Ein Glücksfall war die Zusammenarbeit mit Alexander Kluge, dem Meister des Assoziativen. „Wir arbeiten zusammen, weil wir unvereinbare Gegensätze sind“, schrieb Kluge dazu gewohnt paradox. Geistiges Abenteurertum und Bodenständigkeit waren bei dem Duo so klar verteilt wie bei Marx und Engels.
Das Opus magnum erschien 1981: „Geschichte und Eigensinn“. Eine solch wilde Collage von Theorie und Märchen, Wissenschaft und Comix, ein solches Dickicht von Material hatte es noch nie gegeben. Gleichzeitig war das 1300-Seiten-Werk eine komplexe, konzentrierte Studie zu Negts immer wiederkehrender marxistischer Frage: Woher stammte unser Arbeitsvermögen? Der Leserschaft, die ebenso fasziniert wie verwirrt nach Halteseilen suchte, beschieden die Autoren: „Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch.“
In den 80er Jahren formierte sich in Frankreich eine radikale Kritik der Moderne und eine vehemente Aufklärungsskepsis, vertreten von Foucault, Deleuze, Derrida, die sich mit Habermas, dem Rationalisten, bekämpften. „Geschichte und Eigensinn“ war da eine listige Antwort, die quer zu allem stand. Sie löste gängige sinnstiftende Erzählformen hin zu radikaler Subjektivität auf, und doch waren Kluges kalter juristischer Verstand und Negts Marxismus die Grundmelodie. Eine Art grundvernünftiger Vernunftkritik. „Geschichte und Eigensinn“ blieb ein Solitär, ohne Vorgänger und Nachfolger.
Negt stammte aus kleinen Verhältnissen, war ein Bildungsaufsteiger mit unstillbarem Wissensdurst. Wer sein weiches, ostpreußisches Idiom einmal gehört hatte, vergaß es nicht wieder. Er war 1945 als Kind mit seiner älteren Schwester aus dem Osten geflohen, eine Odyssee am Rand des Todes. In „Überlebensglück“ beschrieb er 2016, warum er das Grauen der Flucht ohne Folgeschäden überstanden hatte. Ihn schützte das aus dem Elternhaus stammende Grundvertrauen, es befähigte ihn, noch im Schrecken Sinnvolles zu erkennen. Sein Werk spiegelt diese Erfahrung wider. Es ist durchzogen von historischem Optimismus, nie naiv, immer materialistisch begründet. Es verströmt ein ansteckendes Vertrauen in die Möglichkeiten des Menschlichen. Es gibt immer eine Lösung. Oskar Negt ist am Freitag mit 89 Jahren gestorben.
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