Suchthilfeexpertin über „Crack-Epidemie“: „Der Handlungsdruck steigt“

Crack breitet sich aus. Christine Tügel von der Drogenberatung Drob Inn in Hamburg warnt vor einer wachsenden Verelendung in der Szene.

Portrait von Christine Tügel

Konumräume sind Teil der Lösung – nicht Teil des Problems, sagt Christine Tügel, Leiterin des Drob Inn am Hamburger Hauptbahnhof Foto: Miguel Ferraz Araujo

taz: Frau Tügel, in vielen deutschen Städten scheint der Konsum harter Drogen in den letzten Monaten massiv gestiegen zu sein – vielerorts wird von einer regelrechten „Crack-Epidemie“ in den Medien berichtet. Aus Hamburg hingegen hört man nicht viel. Warum?

Christine Tügel: In einigen Städten Deutschlands ist der Crackkonsum ein neues Phänomen. In der Hamburger Drogenszene hingegen wird Crack seit Jahrzehnten regelhaft konsumiert und ist Bestandteil polyvalenter Konsummuster. Das heißt, es werden gleichzeitig oder nacheinander mehrere Substanzen konsumiert. So stellen wir bei den Konsumvorgängen in unserem Rauchkonsumraum fest, dass die Kli­en­t*in­nen zu einem Drittel angeben, Kokain oder Crack zu nehmen, zu einem Drittel Heroin und zu einem Drittel beides.

Sind es insgesamt mehr Kon­su­men­t*in­nen geworden?

Die Anzahl der Personen am Drob Inn ist in den letzten Jahren relativ stabil geblieben. Sie sind während der Pandemie nur sichtbarer geworden, weil andere Orte für den Aufenthalt weggefallen sind. Das Drob Inn wurde als systemrelevant eingestuft, hatte durchgängig während der Pandemie geöffnet und die Kli­en­t*in­nen durften sich hier auch in größeren Gruppen versammeln. Natürlich nicht so eng, wegen des Abstandsgebots. Daher haben sich die Menschen etwas weiter über die Fläche vor dem Drob Inn verteilt. Das ist geblieben. Dadurch sieht es aus, als wären es mehr Menschen als vor der Pandemie.

62, ist Diplom-Sozialökonomin und hat sich schon im Studium mit dem Thema Substitutionsbehandlung auseinandergesetzt. Seit 1989 arbeitet sie bei Jugendhilfe e. V., Träger des Drob Inn und anderer Einrichtungen, als geschäftsführender Vorstand.

Wie hat sich die Szene in den vergangenen Jahren verändert?

Obdachlosigkeit war schon immer ein Problem, von dem drogenabhängige Menschen besonders betroffen waren, sie hat aber in den letzten Jahren nochmals stark zugenommen. Dabei ist die Wohnsituation ein Schlüssel für gesellschaftliche Integration oder Teilhabe. Damit einhergehend ist eine wachsende Verelendung unter den Abhängigkeitserkrankten zu beobachten. Es sind mehr Menschen in desolater körperlicher Verfassung zu sehen, mit großen Verbänden und amputierten Gliedmaßen, auf Gehhilfen und Rollstühle angewiesen. Wenn komplexe Wundsituationen nicht behandelt werden, kann dies zu Amputationen von Gliedmaßen führen. Manche sind gar nicht krankenversichert.

Die Krankenversicherung müsste bei den meisten doch das Sozialamt übernehmen.

Das ist im Prinzip richtig, sofern von dort Leistungen bezogen werden. Dies ist aber nicht bei allen der Fall. Wer zum Beispiel gerade aus der Haft entlassen worden ist, ist nicht krankenversichert. Wer Beitragsschulden hat, muss sich zunächst um eine Schuldenregulierung bemühen. Das ist dann ein bürokratischer Vorgang, um den man sich erst mal kümmern muss. Wenn man keinen Personalausweis hat, geht sowieso gar nichts. Aufgrund der Abhängigkeitserkrankung schaffen es viele nicht, diese bürokratischen Hürden zu nehmen. Oft holen sich Abhängigkeitserkrankte erst sehr spät medizinische Hilfe.

Weil sie nicht zum Arzt wollen?

Die späte Inanspruchnahme von Hilfen ist die negative Folge der Stigmatisierung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen. Es ist für viele Menschen schwer, sich trotz der bestehenden Vorurteile beim Arzt nicht als abhängigkeitserkrankt zu outen. Zudem bestehen seitens der Klientel erhebliche Schwellenängste bei der Nutzung der medizinischen Regelversorgung, da sie dort aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes oftmals nicht erwünscht sind. Die Stigmatisierung ist beinahe wie eine zweite Krankheit, weil sie die Menschen zusätzlich zu ihrer Abhängigkeitserkrankung sehr belastet. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, gegen die bestehenden Vorurteile gegenüber abhängigkeitserkrankten Menschen vorzugehen, denn die Betroffenen sind weder willensschwach noch selbst schuld an ihrer Krankheit.

Christine Tügel

„Stigmatisierung ist beinahe wie eine zweite Krankheit, weil sie die Menschen zusätzlich zu ihrer Abhängigkeitserkrankung sehr belastet“

Denken Sie nicht, dass die meisten um die Gefahren wissen, wenn sie anfangen zu konsumieren?

Abhängigkeitserkrankungen haben viele Ursachen. Der Konsum von Alkohol und Nikotin ist trotz seiner bekannten gesundheitlichen Risiken weit verbreitet. Alle, die schon einmal versucht haben, mit dem Rauchen aufzuhören, wissen, wie schwierig es ist, das eigene Verhalten zu ändern. Dies gilt übrigens auch für Menschen mit Asthma, Diabetes oder Bluthochdruck, denen eine Verhaltensänderung trotz ärztlicher Empfehlung häufig nicht gelingt. Letztlich muss es darum gehen, abhängigkeitserkrankte Menschen nicht auszugrenzen.

Wie steht es um die psychische Gesundheit der Abhängigen?

Ein großer Anteil der Menschen, die zu uns kommen, haben neben der Abhängigkeitserkrankung gleichzeitig eine oder mehrere andere psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen. Leider fehlt es an einer psychiatrischen Versorgung direkt vor Ort. Hilfreich und notwendig wäre der unkomplizierte Zugriff auf psychiatrische Fachexpertise, denn das Regelsystem ist zu hochschwellig.

Warum gibt es für Crack kein Substitut?

Wahrscheinlich war das Problembewusstsein bisher nicht groß genug. Die Ausbreitung des Crackkonsums innerhalb Deutschlands führt nun zu mehr Aufmerksamkeit und auch Handlungsdruck. Es werden aktuell Modellvorhaben zur Behandlung von Crackabhängigkeit diskutiert, die einen pharmakologischen Substitutionsansatz verfolgen. Genauso wichtig wird aber die psychosoziale Betreuung inklusive psychiatrischer Behandlung sein, in einem möglichst geschützten Rahmen, der die Wiederherstellung des Tag-Nacht-Rhythmus, eine regelmäßige Ernährung und Medikamenteneinnahme unterstützt.

Hamburg begegnet der Drogenszene zunehmend mit Repression statt mit Gesundheits- und Sozialarbeitsangeboten. Geht das Kalkül auf, eine Sogwirkung gegenüber den Szenen aus anderen Städten zu verhindern?

Ich glaube nicht, dass sich Menschen in eine fremde Stadt bewegen, allein, um dort Drogen zu konsumieren. Das beobachten wir hier auch nicht, die meisten sind in Hamburg geboren oder leben seit vielen Jahren hier. Aber die Diskussion um die Sogwirkung kennen wir seit den 2000er Jahren. Dabei ist es genau anders herum: Die Einrichtungen sind dort hingegangen, wo sie die Abhängigkeitserkrankten mit ihren Hilfeangeboten erreichen und gleichzeitig, wie im Falle des Drob Inn, den Hauptbahnhof und die umliegenden Stadtteile entlasten. Sie sind Teil der Lösung vorhandener Problemlagen und nicht deren Ursache.

Im Vergleich zu anderen Städten gilt Hamburg als fortschrittlich, was Drogenhilfe angeht. Was funktioniert denn hier vielleicht besser als in anderen Städten?

Wir haben mit Unterstützung der Hamburger Behörden schon Ende der 90er Jahre auf den ansteigenden Crackkonsum reagiert. Neben dem Druckraum für intravenösen Konsum haben wir bundesweit die ersten Rauchkonsumplätze eröffnet. Außerdem haben wir Anfang der 2000er Jahre Ruheplätze für Crack­kon­su­men­t*in­nen eingerichtet. Bei hochfrequentem Konsum kommen sie oft tagelang nicht aus dem Kreislauf von Besorgen, Konsumieren, erneut Besorgen heraus, bis sie zusammenbrechen oder das Geld alle ist. Bei uns können sie sich erholen und die Unterbrechung der Konsumphase nutzen, um sich um andere, für sie ebenso wichtige Dinge zu kümmern. Die Ruheplätze haben 24 Stunden geöffnet.

Ist es nicht frustrierend, dass die Menschen trotzdem immer stärker verelenden?

Natürlich ist es frustrierend, dass die Menschen immer stärker verelenden, aber die Arbeit in der Suchthilfe an sich ist nicht frustrierend. Sie ist sehr sinnvoll und unsere Angebote werden von vielen abhängigkeitserkrankten Menschen sehr gut angenommen. Enttäuschend ist jedoch, dass die Tendenz zur gesellschaftlichen Ausgrenzung suchtkranker Menschen eher zunehmend als abnehmend ist. Da gibt es noch viel zu tun.

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