Undrausbistdu!

Kitas gewinnen in der frühkindlichen Bildung an Bedeutung. Doch in Deutschland fehlen hunderttausende Plätze, vor allem für die ganz Kleinen. Wie gehen Be­treue­r:in­nen mit der angespannten Lage um?

Aus Berlin Ralf Pauli

Die Kinder haben klare Zuständigkeiten: Es gibt einen Dirigenten, der das Morgenritual leitet. Einen Tischdienst. Einen Zahnputzchef. An diesem Montagmorgen darf Ly, ein Mädchen mit einem langen Zopf, die Dienste einteilen. Sie läuft zur Wand, an der 22 Namen stehen. Ajala, Jack, Zeynep, Lisa, Jakub. Ly überlegt kurz, dann greift sie zu einem Schild, auf dem Cem steht. Den ernennt sie zum Dirigenten. Johannes Hauenstein, der Erwachsene in der Runde, nickt. „Jetzt noch die anderen Dienste“, sagt er. Nach dem Stuhlkreis beginnt der Erzieher einer Kita im Berliner Westen mit seiner eigentlichen Arbeit: der „Vorschule“. Hauenstein meint damit das Bildungsangebot für die 22 Kinder.

Offiziell gibt es keine Vorschulen mehr in Berlin. Vor knapp zwanzig Jahren hat der Senat sie abgeschafft. Bis heute ist der Ansatz umstritten, die Kita-Kinder ab fünf Jahren spielerisch ans Lernen und an die schulische Disziplin heranzuführen. Nur Hamburg bietet noch Vorschulen im letzten Kita-Jahr an.

Doch inzwischen werden die Rufe nach mehr Förderung in der Kita wieder lauter – seit offensichtlich ist, dass sich die Grundschulen zunehmend schwertun, allen Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Mittlerweile scheitern sie damit bundesweit im Schnitt bei jedem dritten bis vierten Kind – Tendenz stark steigend. Wie die jüngste Pisa-Studie zeigt, holen die Schü­le­r:in­nen diese Rückstände in höheren Klassen meist nicht mehr auf.

Entsprechend planen mehrere Bundesländer Fördermaßnahmen in der Kita, darunter Sachsen-Anhalt oder Baden-Württemberg. Auch in Berlin sollen die Deutschkenntnisse durch ein verpflichtendes „Kita-Chancenjahr“ steigen.

Johannes Hauenstein ist dafür. Seit den 70er Jahren arbeitet er als Erzieher in Berlin. Er hat unterschiedliche pädagogische Ansätze kennengelernt: Abenteuerspielplatz, Kinderläden, Ganztagsbetreuung an einer Grundschule. Auch an einer Kita in staatlicher Trägerschaft hat er gearbeitet. Heute überwiege in der frühkindlichen Bildung der „offene Ansatz“, sagt Hauenstein. Also die Vorstellung, dass das Kind seinen Wissensdrang mehr oder weniger von alleine stillt. Doch das, meint er, funktioniere nicht. Ohne klare Struktur verpuffe der Lernhunger der Kinder. Und ohne gezielte Konzentrationsübungen falle vielen der Wechsel an die vergleichsweise strenge Grundschule schwer.

Deshalb trainiert Hauenstein an diesem Morgen das Hörverständnis seiner Vorschulgruppe. „Ist in Wiese ein ‚i’?“ Jedes Kind nimmt er reihum mit einer Frage dran. Das genaue Zuhören ist Teil einer festen Wochenstruktur. Jeden Tag werden Sprach- und Schreibübungen gemacht. Dazu kommt, dass die Kinder am Dienstag selbst Experimente durchführen dürfen. Am Mittwoch ist A-Capella-Tag, am Donnerstag dann dürfen sie Parks und Museen erkunden. Auch die „Hausaufgaben“, die abgeheftet werden, gehören zum Ritual. Es handelt sich dabei um Mal- und Schreibübungen, die den Kindern helfen sollen, sich selbst zu strukturieren.

Vor zehn Jahren haben Hauenstein und eine Kollegin das Programm entwickelt und seither an verschiedenen Kitas in Berlin erprobt. In einem sozialen Brennpunkt im Wedding, im Ost-Berliner Bezirk Pankow und nun im bürgerlichen Charlottenburg. Überall hätten sie damit gute Erfahrungen gemacht. Vor allem hätten sie Kinder zum Lernen motiviert. Auch die, die kein oder wenig Deutsch konnten. „Die allermeisten konnten wir guten Gewissens in die Schule schicken“.

„Wir brauchen systematische, bedarfsgerechte Förderung von Kindern bereits im Vorschulalter“

Doris Lewalter, Nationale Projektleiterin der Pisa-Studie

Bil­dungs­for­sche­r:in­nen betonen schon länger, wie wichtig Vorschulbildung ist. „Wir brauchen eine systematische, bedarfsgerechte Förderung von Kindern bereits im Vorschulalter“, mahnt die nationale Pisa-Projektleiterin Doris Lewalter. Die Kita soll heute nicht mehr nur die Vereinbarkeit von Familie und Beruf garantieren – sie soll Kinder fördern und allen die gleichen Bildungschancen bieten. Oder zumindest die Defizite verringern, die Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern mitbringen.

Dass Kitas dazu in der Lage sind, zeigt eine in Deutschland einzigartige Langzeit-Bildungsstudie. Seit 2012 begleiten For­sche­r:in­nen vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) in Bamberg rund 3.400 zufällig ausgewählte Kleinkinder. Der erste „Test“ erfolgte bereits nach sechs bis acht Monaten über eine aufwendige Videodokumentation und Elternbefragung. Mit drei Jahren dann untersuchten die For­sche­r:in­nen unter anderem, wie gut das Kind Logik­aufgaben bewältigt. Mit vier sein mathematisches Verständnis. Mit fünf seinen Wortschatz und sein soziales Verhalten. Eine internationale Gruppe von For­sche­r:in­nen hat die vollständig vorliegenden Daten von 992 Kindern nun auf zwei Aspekte hin untersucht: Wie entwickelten sich die einzelnen Kinder je nach sozialer Herkunft? Und welche Rolle spielte es, ob das Kind dabei eine Kita besuchte oder nicht?

Mitte Januar wurden die Ergebnisse dieser Studie veröffentlicht. Aus Sicht der stellvertretenden LIfBi-Direktorin und Mitautorin Corinna Kleinert sind die Langzeitdaten eindeutig: „Vor allem Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status profitieren vom Kita-Besuch.“ Während es bei den besser gestellten Kindern keinen so großen Unterschied mache, ob sie in eine Kita gehen oder nicht (außer im sozialen Verhalten!), lernten benachteiligte Kinder dort deutlich mehr Wörter und hatten ein besseres mathematisches Verständnis. „Die Kita kann soziale Ungleichheiten absenken“, sagt Kleinert.

Allerdings zeigen ihre Daten auch: Ausgerechnet die Kinder, die am meisten von der Kita profitieren würden, nehmen die Betreuung deutlich seltener in Anspruch.

Woran genau das liegt, ist wenig erforscht. Eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zeigt jedoch, dass der ungleiche Zugang zu Kita-Plätzen bis heute unverändert hoch ist. Sozial schwächer gestellte Familien haben bei der Kita-Platzvergabe nur etwa halb so gute Chancen wie besser gestellte – obwohl beide Gruppen einen gleich hohen Bedarf angeben. Corinna Kleinert vom LIfBi hält deshalb einen weiteren Ausbau der Kita-Plätze für dringend notwendig, um gleiche Bildungschancen für alle Kinder zu gewährleisten.

Tatsächlich fehlen zehn Jahre nach Einführung des Rechtsanspruches auf einen Kita-Platz ab dem ersten Lebensjahr immer noch hunderttausende Plätze. Vor allem bei den unter Dreijährigen klaffen Bedarf und Angebot auseinander. Trotz des massiven Ausbaus der Betreuungsangebote durch Bund und Länder kann heute nur etwa jedes dritte Kind unter drei eine Kita besuchen: laut einer Untersuchung des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft gab es im März 2023 Kita-Plätze für rund 857.000 Kinder. Jedoch hatten die Eltern von 1,16 Millionen Kindern Bedarf.

Die Welt der Kleinen ist groß: Stühle können eine Burg sein Foto: Erol Gurian/laif

Bei den älteren Kindern ist die Situation zwar deutlich entspannter – 92 Prozent besuchen bundesweit eine Kita – einen Betreuungswunsch geben jedoch 97 Prozent der Eltern an. Die neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Christine Streichert-Clivot, erklärt den Dauermangel so: „Wir merken, dass die Nachfrage steigt, wenn wir das Angebot ausbauen und die Eltern von den Gebühren befreien.“

Allein in Berlin fehlen nach Angaben der Bertelsmann Stiftung 17.000 Plätze. Auch die Kita, an der Johannes Hauenstein arbeitet, musste in diesem Jahr wieder viele Eltern abweisen. Dabei könnte die Einrichtung prinzipiell ein paar Kinder mehr aufnehmen als die aktuell 75, aber es fehlt das Personal. „Die Vorgaben des Senats verbieten uns, noch mehr Kinder aufzunehmen, wenn dann der Personalschlüssel nicht mehr stimmt“, sagt Charlotte Yılmaz. Die Leiterin von Hauensteins Kita hat die taz eingeladen, sich ein Bild vom dem Arbeitsalltag in ihrer Einrichtung zu machen, vorausgesetzt, die Namen der Kinder und auch ihrer werden anonymisiert.

Zu ihren Aussagen aber steht sie: „Die Ansprüche an die Kitas sind enorm gestiegen. Vor allem die Dokumentation ist sehr umfangreich“. Sprachstandserhebungen, Sprachlerntagebücher, Lerndokumentation, Beobachtungsbögen, Entwicklungsgespräche mit den Eltern. Alles schreibe die Bildungsverwaltung vor, sagt Yılmaz. Im Arbeitsalltag sei das kaum zu bewältigen. Mehrmals musste ihr Kita-Träger schon eine Zeitarbeitsfirma beauftragen, um kurzfristig einen qualifizierten Ersatz zu gewinnen.

Für Erzieher Hauenstein sind die Arbeitsbedingungen auf dem Papier gut. Für die 22 Kinder sind 4 Fachkräfte zuständig. In der Praxis sind sie wegen Urlaub, Krankheit, Teilzeit, Verwaltungsarbeit meist zu zweit. Vor allem aber wünscht sich Hauenstein mehr Zeit, um seine Bildungsangebote gut vor- und nachbereiten zu können. Um nicht auszubrennen, hat der Erzieher seine Stunden reduziert – auf 22 die Woche.

„Ich liebe meine Arbeit. Aber acht Stunden Bildungsarbeit am Tag gehen einfach nicht“. Ideal seien drei oder vier Stunden. Das entspreche in etwa der Zeit, die Grund­schul­leh­re­r:in­nen mit dem Unterrichten verbringen. Die restlichen Wochenstunden hätten die Zeit für Elterngespräche, Vorbereitung, Recherche. So eine Aufteilung hätte Hauenstein als Erzieher auch gerne.

Motorische Fähigkeiten werden geübt   Foto: Erol Gurian/laif

Doch wie das gehen soll, wenn an allen Enden Fachkräfte fehlen, kann er nicht beantworten. Allein um die Betreuungswünsche aller Eltern zu erfüllen, müssten die Kitas aktuell 100.000 Er­zie­he­r:in­nen zusätzlich einstellen, zeigt der aktuelle Kita-Fachkräfteradar der Bertelsmann Stiftung. Deren Bildungsexpertin Anette Stein sieht noch ein weiteres Problem: „Selbst wenn all diese Er­zie­he­r:in­nen da wären, wären wir weit entfernt von einer kindgerechten Betreuung“. Stein versteht darunter, dass eine Fachkraft rechnerisch nicht mehr als 3 Krippen- oder 7,5 ältere Kinder alleine betreut.

In der überwiegenden Mehrheit der Kita-Gruppen in Deutschland ist diese Empfehlung jedoch reines Wunschdenken – vor allem in den ostdeutschen Bundesländern. Dort liegen die Personalschlüssel teilweise fast doppelt so hoch. Hinzu kommt: Verwaltungsaufgaben, Urlaubs- und Krankheitstage verringern die Zeit, in der Er­zie­he­r:in­nen die Kinder pädagogisch betreuen können.

Wozu das führt, konnte man im November in Berlin beobachten. Rund 2.600 Er­zie­he­r:in­nen der landeseigenen Kita-Betriebe haben wegen des hohen Personalmangels beim Senat eine „kollektive Gefährdungsanzeige“ erstattet. Dabei hat das Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung bereits in der Vergangenheit mehrfach Alarm geschlagen. „Auf Grund von personellen Engpässen können zum Teil pädagogische Aufgaben nicht erfüllt werden“, heißt es etwa in einem Bericht von 2022.

Das Beispiel zeigt, wie dramatisch die Situation ist. Um der Personalkrise etwas entgegenzusetzen, senken viele Bundesländer mittlerweile die Standards. In Rheinland-Pfalz etwa können Fachkräfte bereits nach 20 Tagen „Basisqualifizierung“ in einer Kita arbeiten. Hessen hat die Gruppe an Ausbildungsberufen erweitert, die nun als Kita-Fachkräfte in Frage kommen. Und in Brandenburg dürfen bis zu 20 Prozent aller Mit­ar­bei­te­r:in­nen neuerdings komplett ohne pädagogische Ausbildung an Kitas arbeiten. Viele Länder haben zudem schon den Weg für den Quereinstieg in die Kita geebnet, auch Berlin.

Spielend lernen die Kinder in der Kita Foto: Erol Gurian/laif

Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung beobachtet diese Entwicklung mit Sorge. „Das Kita-System steht heute bereits vor dem Kollaps“. Viele hätten Probleme, die Öffnungszeiten aufrechtzuerhalten. Jetzt noch die Ansprüche an die Qualität zu senken, wäre aus ihrer Sicht verheerend. Statt mehr unqualifiziertes Personal einzustellen, empfiehlt sie, die Öffnungszeiten vorübergehend einzuschränken – und die frei werdenden Ressourcen für mehr Plätze zu nutzen. Langfristig könne die Qualität nur gewährleistet bleiben, wenn der Bund auch über 2025 hinaus in die Kita-Qualität investiere und die Länder die Personalschlüssel anpassen. Optimistisch stimmt Stein lediglich, dass einige Länder mittlerweile auf eine praxisorientierte und vergütete Ausbildung setzen. Das mache zumindest den Einstieg in den Beruf attraktiver.

Das alleine wird jedoch nicht reichen. Ab 2026 führt der Bund einen weiteren Rechtsanspruch ein: den auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen. Auch der ist wichtig. Zum einen für die Chancengerechtigkeit. Zum anderen für berufstätige Frauen, die häufig unfreiwillig auf Teilzeit reduzieren, wenn die Kinder in die Schule kommen, weil sie nachmittags nicht betreut sind.

Für die Kitas jedenfalls sind die Pläne ein Prüfstein: Verbessern sich die Arbeitsbedingungen bis dahin nicht deutlich, könnte ihr Personal Richtung Grundschulen abwandern.

Für Johannes Hauenstein kommt ein Wechsel aber nicht in Frage. An seiner Kita werde er für seine Bildungsarbeit wertgeschätzt, sagt er. In der Grundschule, so hat er das erlebt, nähmen die Lehrkräfte seine Arbeit hingegen nicht ernst.

3,93

Millionen Kinder wurden im Jahr 2023 in Tageseinrichtungen in Deutschland betreut

Quelle: destatis.de

43

Prozent höher als zehn Jahre zuvor war 2023 die Zahl der unter Dreijährigen in einer Kita

Quelle: destatis.de

386.000

Kita-Plätze fehlen gegenwärtig in den westdeutschen Bundesländern. Insgesamt sind es 431.000

Quelle: Bertelsmann-Stiftung

66

Prozent des Kita-Personals arbeitet derzeit nicht in Vollzeit

Quelle: destatis.de

40

Prozent des pädagogischen Personals in Kitas war im März 2023 jünger als 35 Jahre

Quelle:­destatis.de

18

Prozent betrug 2023 der Männeranteil. Damit liegt er 4 Prozentpunkte höher als 2013

Quelle: destatis.de