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Erdoğan in AthenPlötzlich ziemlich beste Freunde

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Eigentlich war der griechische Premier für Recep Tayyip Erdoğan „nicht mehr existent“. Nun haben sich die beiden ganz real in Athen getroffen.

Der türkische Präsident Tayyip Erdogan in Athen Foto: Louisa Gouliamaki/Reuters

N och vor gut einem Jahr herrschte scheinbar tiefste Feindschaft zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis. Er werde nie wieder mit Mitsotakis sprechen, der existiere für ihn nicht einmal mehr, verkündete Erdoğan damals. Umso erfreulicher, dass Erdoğan den weiterhin existierenden Mitsotakis jetzt in seinem Amtssitz in Athen besuchte und sie eine gemeinsame Erklärung über wechselseitige Freundschaft und gute Nachbarschaft unterschrieben.

Es brauchte anscheinend erst das verheerende Erdbeben im Südosten der Türkei im Februar dieses Jahres und der schnellen Hilfe aus Griechenland, um sich politisch wieder anzunähern. Der neue Frühling in den bilateralen Beziehungen hat aber nicht nur sentimentale Gründe. Nach seiner Wiederwahl im Mai braucht Erdoğan das nationalistische Gedröhne nicht mehr.

Stattdessen muss er nun versuchen, die völlig desolate Wirtschaft des Landes wieder auf Kurs zu bringen. Dafür braucht er Europa. Aber der Weg nach Europa führt eben nicht nur geografisch, sondern auch politisch über Griechenland. Deshalb redet Erdoğan nun auf einmal vom Dialog, mit dem sich letztlich alle Probleme lösen lassen würden.

Bis die jahrzehntealten Konflikte um Zypern und die Hoheitsgebiete in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer wirklich entschärft werden, ist es noch ein weiter Weg. Die neuerliche Bereitschaft, zu reden und zu verhandeln, ist dennoch ein großer Fortschritt gegenüber den kriegerischen Drohungen von 2020, als es im Konflikt um die Ausbeutung von Gas- und Ölfeldern im Mittelmeer fast zum Schusswechsel gekommen wäre.

Für die Menschen auf beiden Seiten der Ägäis wäre eine echte Entspannung eine große Erleichterung. Die Bewohner der Inseln gegenüber der türkischen Küste müssten keine Angst mehr haben, dass über Nacht türkische Landungsboote auftauchen. Stattdessen könnten wieder mehr türkische Urlauber dorthin kommen. Angesichts der Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen ist es endlich mal eine gute Nachricht, dass der Konflikt zwischen den beiden Nato-Staaten im östlichen Mittelmeer jetzt immerhin entschärft wird.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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5 Kommentare

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  • Feinde ? Eher ein Gerücht.



    Den Hellenen ging es im osmanischen Reich so gut, dass die orthodoxe Kirche durch die Toleranz des Islam prosperierte und Handel und Kultur blühten.

  • Sehr lobenswert, wenn gewohnheitsmäßige Erzfeinde sich vertragen. Davon sind viele Fußballvereine noch weit entfernt.

  • Die Griechen halten sich hoffentlich an das Motto Teddy Rosevelts: "Speak softly, but bear a big stick!" Der türkische Machthaber hat unzählige Male seinen Kurs um 180 Grad geändert. Aus engsten Freunden wurden kurze zeit später erbitterte Feinde, wenn es oppurtun war.

  • Diese Entspannungspolitik war bitter nötig und ist natürlich sehr zu begrüßen. Aber machen wir uns nichts vor: Das ist alles nur Symbolik, es zeichnet sich keine Lösung für irgendeines der bilateralen Probleme ab. Beide Seiten wiederholen sklerotisch ihre Positionen, nur halt netter. Jederzeit kann die Lage wieder eskalieren.

  • So funktioniert „moderne“ Politik. Jeden Tag das Fähnchen anders ausrichten. Schon morgen kann es passieren, dass die Türkei Griechenland angreift. Oder eben nicht. Und die Menschen in der Türkei finden das alles super.