„Wir haben Angst vor Folter, Tod und Hinrichtung“

Mona*, 30, Lehrerin aus Teheran

Am Tag nach dem Tod von Dschina Mahsa Amini ging ich mit meinen Freun­d*in­nen auf die Straße. Ich werde diesen glorreichen Tag nie vergessen. Die Anzahl der Menschen, die ohne vorherige Absprache und ohne Aufruf auf die Straße gekommen waren, war so groß, dass uns Tränen der Begeisterung in die Augen schossen.

Von diesem Tag an wurden die Straßen der iranischen Städte zu einem Ort, wo wir das neu geborene Ritual des „Schalverbrennens“ zelebrierten. Ich sah mutige Mädchen und Frauen, die neben Jungen und Männern standen und ihre Rechte einforderten. Ich erinnere mich an die Sonne, die auf ihr schönes Haar schien. Ich sah sie, wie sie die Hi­dschabs anzündeten. Ich erlebte die ersten Erschütterungen an der Festung der Unterdrückung des Revolutionsführers Seyyed Ali Chamenei.

Jetzt ist ein Jahr vergangen, aber für die Menschen in Iran fühlt es sich an wie hundert Jahre. Hundert Jahre seit dem Tag, an dem Frauen und Männer in Iran beschlossen, frei zu leben. Hundert Jahre seit dem Tag, an dem Frauen in Iran keinen Zwangshidschab mehr tragen.

Ich bin eine Frau und gehe jeden Tag ohne Hidschab auf die Straße. Jeden Tag trete ich mit einem Gefühl von Angst, Bedrohung, Macht und Hoffnung auf die Straße. Und jeden Tag sehe ich auf der Straße Frauen, die trotz aller Drohungen der Islamischen Republik ohne Hidschab auf den Straßen sind. Wenn wir ohne den Zwangshidschab in unseren Autos sitzen, konfisziert die Regierung der Islamischen Republik die Autos, annulliert unsere Führerscheine und verbietet uns die Ausreise aus dem Land. Dennoch ist die Stadt voller Frauen, die ohne Zwangs­hi­dschab in ihren Autos fahren. Frauen, die keinen Hidschab tragen, werden entlassen, und öffentliche Orte, die Frauen ohne Hidschab Eintritt gewähren, werden geschlossen und versiegelt. Die Sittenpolizei hat ihre Aktivitäten wieder aufgenommen – und trotzdem verlassen Frauen ihr Zuhause jeden Tag ohne Hidschab.

Die Ablehnung des Verschleierungszwangs durch Frauen und die Tatsache, dass diese Frauen von Männern unterstützt werden, ist die größte Errungenschaft der „Dschina-Revolution“. Ein weiterer der großen Erfolge dieser revolutionären Bewegung ist, dass endlich auch die Stimmen von Frauen gehört werden, die in benachteiligten Gebieten wie Sistan und Belutschistan leben. Frauen, die vorher nie protestiert hatten und die immer ignoriert wurden, stehen seit einem Jahr jede Woche nach dem Freitagsgebet neben den Männern und verlangen nach Freiheit.

Während wir uns dem Jahrestag von Dschina Mahsa Amini nähern, werden Personen, die bei den Protesten festgenommen und gegen Kaution freigelassen wurden, erneut vor Gericht gebracht. Viele von ihnen wurden auch erneut ins Gefängnis gebracht. Familienmitglieder der Opfer, die während dieses Jahres von den Kräften der Islamischen Republik drangsaliert und misshandelt wurden, werden vor dem Jahrestag ebenfalls wieder inhaftiert.

Das Internet in Iran ist wie in den ersten Tagen dieser revolutionären Bewegung gestört. Wir sind hoffnungsvoll, aber wir haben auch viel Angst. Angst vor der Zukunft, Angst vor Folter und Tötung und Hinrichtung.

Ein Jahr nach Dschina Mahsa Aminis Tod wurde keine einzige Person, die während dieser Proteste Menschen getötet hat, identifiziert und vor Gericht gestellt. In Iran gibt es keine Sicherheit.

Zu Beginn dieser revolutionären Bewegung standen alle westlichen Länder und die UN an unserer Seite; wir fühlten uns durch ihre Unterstützung ermutigt. Aber heute wissen wir, die Menschen in Iran, dass die westlichen Länder uns nicht helfen werden. Weiterhin laden die Führer der westlichen Länder die Vertreter der Islamischen Republik zu offiziellen Treffen ein und geben ihnen die Hand, und noch immer werden unschuldige Menschen in Iran von den Agenten der Islamischen Republik getötet.

Unsere einzige Bitte an die westlichen Staaten ist, dass sie, wenn sie uns schon nicht helfen, nicht auch noch die Mörder unterstützen sollen.

Wir werden nicht zurückgehen.

Übersetzung: Gilda Sahebi

* Namen geändert