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Auch tote Vögel fliegen hoch

In ihrem Dokumentarfilm „Die Toten Vögel sind oben“ zeigt Sönje Storm das Werk ihres Vorfahren: Friedrich Mahrt war Künstler, gefangen in der Existenz eines Bauern

Auf Ausdrucksstärke hin präpariert: ein entomologisches Werk des Naturkundekünstlers Friedrich Jürgen Mahrt Foto: Sönje Storm

Von Wilfried Hippen

Ein Bauer verkauft ein großes Stück von seinem Ackerland, um sich von dem Geld eine teure Kamera zu kaufen. Später fängt er einen seltenen Schmetterling und fährt mit dem Fahrrad aus Schleswig-Holstein in die Schweiz, um dort seinen Fund einem anderen Sammler zu zeigen. Als er nach mehreren Wochen zurückkehrt, ist die Ernte auf seinen Feldern verdorben. Das sind Geschichten, die man sich jetzt noch über Jürgen Friedrich Mahrt in seiner Familie erzählt. Ob dies Fakten oder Familienmythen sind, ist heute nicht mehr herauszufinden. Sicher ist nur: Wenn es Belege für sie gäbe, hätte Dokumentarfilmerin Sönje Storm sie gefunden.

Sönje Storm ist Mahrts Urenkelin, und dessen Vermächtnis besteht nicht nur aus Familiengeschichten über einen Sonderling, sondern auch aus einem Nachlass, der 350 ausgestopfte Vögeln, über 3000 Schmetterlinge, Pilze und Käfer sowie eine riesige Fotosammlung beinhaltet.

Storm hat ihren Urgroßvater nie kennengelernt. Nicht einmal ihr Vater hat ihn noch getroffen, denn Jürgen Friedrich Mahrt starb im Jahr 1940. Aber seine Fotos und präparierten Tiere, die zeigen, dass Mahrt eine Künstlerseele und ein besessener Sammler war, haben sie so fasziniert, dass die Filmemacherin sich auf eine Recherche zu ihrem Urgroßvater und dessen Oeuvre gemacht hat.

Dieses verstaubte jahrzehntelang auf dem Dachboden des Bauernhauses der Familie in Elsdorf, Schleswig-Holstein. Inzwischen haben verschiedene Museen Norddeutschlands Teile des Nachlasses eingelagert, katalogisiert und bearbeitet. So landeten Mahrts Fotos im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe und die aufgespießten Schmetterlinge im Naturhistorischen Museum in Hannover.

Sönje Storm wollte herausfinden, was für ein Mensch ihr Uropa war. Und da es so gut wie keine persönlichen Aufzeichnungen gibt, hat sie sich seine Arbeiten genauer angesehen: Der Begriff „Werke“ trifft deren Charakter, denn Mahrt war eher Künstler als Naturkundler. Diesen irritierenden Unterschied macht Sönje Storm geschickt mit ihren filmischen Mitteln deutlich, indem sie selber ebenfalls bewusst irritiert. So zeigt sie ein Bild einer Waldlandschaft, die wirkt, als hätte Storm selbst sie gerade mit ihrer Kamera aufgenommen. Nichts an dem Bild wirkt historisch. Doch unter ihm steht „Elsdorfer Gehege 1924“. Dabei steckte die Farbfotografie damals noch sehr in den Anfängen. Aufnahmen wie diese konnten Laien damals gar nicht machen. Die Erklärung: Mahrt hat mit feinem Pinsel viele seiner Fotos koloriert, so dass sie einen heute modern wirkenden rot-grün Stich bekamen. Dank entsprechenden Filtern wirken auch die von Storm gefilmten realen Landschaften, als wären sie koloriert.

In einer anderen Szene sieht man einen Vogel an einem Seeufer. Er bewegt sich nicht, aber das Wasser wirft kleine Wellen und andere Vögel fliegen im Hintergrund vorbei. Die Sequenz wirkt ein wenig unheimlich, und erst viel später wird erklärt, dass Storm auch hier den Stil von Mahrt kopiert hat: Er stellte manchmal seine ausgestopften Vögel in die Landschaft und fotografierte sie dann so, als wären es reale Naturaufnahmen. Für einen Zoologen wäre das eine unzulässige Schummelei, die ihn völlig unglaubwürdig machen würde. Für einen Künstler aber ist es ein effektives Stilmittel. Storm macht diese mit ihren von Mahrt inspirierten Filmtricks eindrucksvoll deutlich.

Jürgen Friedrich Mahrt stellte manchmal seine ausgestopften Vögel zum Fotografieren in die Landschaft

Wer also glaubt, ein 83 Minuten langer Film über fast 100 Jahre alte Fotos, ausgestopfte Vögel und Sammlungen mit toten Insekten dürfte wohl eher langweilig sein, wird angenehm enttäuscht. Denn einerseits wird Sönje Storm dem Werk ihres Vorfahren gerecht – zum anderen ist dies aber auch eine faszinierende Detektivarbeit, bei der die Regisseurin Fachleute wie Entomologen, Ethnologen, einen Naturschützer oder eine Kuratorin danach befragt, wie sie die Werke von Mahrt sehen und bewerten. Sie hat sogar einen Zeitzeugen gefunden, der Mahrt noch persönlich kannte: einen alten Bauern, der Plattdeutsch spricht und Mahrts Kamera dessen „Knipskasten“ nennt. Aber auch seine Erinnerungen machen nicht klarer, warum Mahrt so vernarrt in seine Kunst und die Natur war. Er bleibt ein Geheimnis, das Storm aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet.

Dafür hat sie tief gegraben und immer wieder die Fotos von Mahrt studiert. Man muss zum Beispiel schon sehr genau hinsehen um zu bemerken, dass ein Berghof in einer alpinen Landschaft, den Mahrt auf seiner Fahrradfahrt zu seinem Schweizer Freund aufgenommen hat, der Berghof von Adolf Hitler am Obersalzberg ist. Ist Mahrt dorthin gepilgert oder eher zufällig daran vorbeigefahren?

Viele der gesammelten Tiere sind bereits ausgestorben   Foto: Storm

Storm spekuliert nicht. Stattdessen sammelt sie, was vorliegt. Dadurch offenbart sie in ihrem Film eine unübersehbare Familienähnlichkeit mit ihrem Ur-Opa. So verbindet beide die Liebe zu dem Medium, in dem sie arbeiten. „Die Toten Vögel sind oben“ ist nicht nur von dem Kameramann Alexander Gheorghiu brillant und oft im Stil der Bilder von Mahrt fotografiert. Auch beim Sounddesign hat sich Storm große Mühe gegeben. Neben dem Tongestalter Roman Pogorzelski haben gleich mehrere Musiker und Mixer an einer raffinierten Tonspur gearbeitet, in der zum Beispiel immer dann, wenn die Bilder von Mahrt in einem historisch, musealen Kontext gezeigt werden, ein leises Knistern und Rauschen beigemischt ist.

„Die Toten Vögel sind oben“ ist aber noch mehr als Kunst und Familiengeschichte. Denn Jürgen Friedrich Mahrt zeigt in seinen Artefakten auch eine untergegangene Welt. Viele seiner Vögel und Schmetterlinge sind längst ausgestorben und die Tier­kund­le­r*in­nen in den Museen sowie ein Naturschützer erklären eindrücklich, wie verheerend der Einfluss des Menschen auf die Natur von damals bis heute ist. Sönje Storm hat zum krönenden Abschluss sogar einen visionären Künstler in ihrem Großvater entdeckt: Auf einigen seiner Bilder sieht man große überschwemmte Landschaften, in denen nur ein paar Bäume aus dem Wasser ragen. Danach wurden diese norddeutschen Gebiete eingedeicht, aber bei dem steigenden Meeresspiegel werden sie irgendwann in der Zukunft wieder so aussehen wie auf diesen knapp hundert Jahre alten Bildern.

„Die Toten Vögel sind oben“, läuft ab 31. 8. in der Schauburg, Rendsburg, im Abaton und im Koralle, Hamburg sowie im City 46, Bremen. Dort mit Publikumsgespräch mit Regisseurin Sönje Storm am 1. 9., 20 Uhr

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