Schwächelndes Deutschland

Droht hiesigen Produktionsunternehmen der Zusammenbruch, wie es aus der CDU heißt? Die Wirtschaftsdaten belegen das nicht

Ein Mitarbeiter arbeitet an einer Wasserstoff-Brennstoffzelle bei der Inbetriebnahme des Werks der Hydrogenics Cummins GmbH in Herten. Die Hydrogenics Cummins GmbH beliefert Alstom-Züge, das die weltweit ersten Personenzüge mit Wasserstoffantrieb herstell

Ein bisschen was hat der Standort D offenbar doch zu bieten: Die Hydrogenics Cummins in Herten entwickelt Brennstoffzellensysteme für Alstom-Züge, die ersten mit Wasserstoff-Brennstoffzellen betriebenen Personenzüge der Welt Foto: Ina Fassbender/afp

Von Hannes Koch

Gute wirtschaftspolitische Nachrichten häufen sich in jüngster Zeit. In Thüringen eröffnete die chinesische Firma CATL ihre erste ausländische Batteriefertigung für E-Autos. Der US-Fahrzeughersteller Tesla will sein Werk bei Berlin massiv vergrößern. Das Stahlunternehmen Thyssenkrupp erhält 2 Milliarden Euro vom Staat, um seinen ersten Wasserstoff-Hochofen zu bauen.

Negativ klingende Schlagzeilen gibt es aber auch. So droht der Chemiekonzern Dow Chemical an der Elbe wegen der hohen Stromkosten mit Verlagerung ins Ausland. Meyer Burger, die Solarfirma aus der Schweiz, baut eine neue Fabrik in den USA, nicht in Sachsen-Anhalt. BASF investiert stark in China. Doch ein „schleichender Prozess der Deindustrialisierung“, wie ihn CDU-Chef Friedrich Merz an die Wand malt, ist nicht zu sehen. Denn „Deindustrialisierung“ bedeutete, dass wesentliche Teile der Industrie verschwinden würden.

Die Fakten sprechen gegen diese These, zum Beispiel die Zahl der Arbeitsplätze. 7,5 Millionen Leute beschäftigen die Industrieunternehmen hierzulande. Die Tendenz ist weitgehend stabil – vor zehn Jahren waren es 7,4 Millionen Jobs. Dann wuchs die Zahl etwas, seit 2020 ist sie leicht um 4 Prozent gesunken. „Darin steckt auch die steigende Produktivität“, erklärt Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Weniger Menschen produzieren mehr Güter. „Das ist das Gegenteil von Deindustrialisierung“, sagt Gornig.

Ein ähnliches Bild zeigt die Entwicklung der Firmeninsolvenzen. Die Zahl der Unternehmen, die aufgeben müssen, steigt in diesem Jahr an. „Die Zahl der Insolvenzen ist so hoch wie seit sieben Jahren nicht mehr“, schreibt das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH). Aber das bezog sich auf Juni 2023. Von Januar bis Mai lagen die Firmenpleiten dagegen unter dem Vor-Corona-Niveau.

Im vergangenen Jahr gingen laut Statistischem Bundesamt (Destatis) 10.432 Betriebe pleite. Vor Corona, als die Wirtschaft gut lief, waren es jedoch viel mehr: 13.609 (2019), 2016 fast 16.000 und 2014 fast 18.000. Mit einem Zusammenbruch der Industrie hat das nichts zu tun.

Weitere Daten stützen diesen Befund. Der Destatis-Produktionsindex, der Wert und Menge der industriellen Fertigung darstellt, verzeichnet bis Ende 2022 keine Abnahme. Das kurzfristige Auf und Ab folgt dem langfristigen Trend. 2023 geht es allerdings leicht runter. Doch „der etwas abfallende Produktionsindex in diesem Jahr ist ein Ergebnis kurzfristiger Effekte“, sagt DIW-Ökonom Gornig. Hier macht sich beispielsweise die augenblickliche Inflation bemerkbar. „Eine langfristige, strukturelle Deindustrialisierung ist daran aber nicht zu erkennen“, so Gornig.

Und wie sieht es bei den Investitionen aus? Hier werden augenblicklich Zahlen diskutiert, die die These der Deindustrialisierung stützen könnten. Denn nach Angaben der Bundesbank haben sich die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland 2022 im Vergleich zum Vorjahr halbiert. Das lässt sich so interpretieren: Investoren etwa aus den USA sehen gerade weniger Sinn darin, Geld in Deutschland anzulegen – was ein grundsätzliches Problem anzeigen mag.

DIW-Experte Gornig gibt sich auch an diesem Punkt entspannt. „Dass Deutschland momentan weniger attraktiv ist für Investitionen aus dem Ausland, hat überwiegend konjunkturelle Gründe“, sagt er. Diese Schwierigkeiten könnten sich bald wieder verflüchtigen. Er fügt hinzu: „Die hohen Energiekosten sind für die meisten ausländischen Investoren wenig relevant.“ Denn für einen Großteil der Unternehmen machten die Energieausgaben nur einen kleinen Posten der Gesamtkosten aus.

„Strukturelle Deindustrialisierung ist nicht zu erkennen“

Martin Gornig, DIW-Ökonom

Die Gegenposition formuliert Oliver Falck, Ökonom am ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München: „Die Gründe für die Zurückhaltung ausländischer Investoren sind vorwiegend langfristiger Natur“ – und damit potenziell bedrohlich für das Überleben der hiesigen Industrie. „Einen entscheidenden Nachteil bilden die hohen Energiekosten etwa im Vergleich zu den USA“, erklärt Falck. Weil Deutschland das russische Gas nicht mehr kauft, sind die hiesigen Firmen auf teure Flüssiggas-Importe aus anderen Quellen angewiesen. In Nordamerika wird der Brennstoff aus heimischen Lagerstätten viel billiger angeboten. Das ist ein Grund, warum die hiesige Öffentlichkeit nun darüber debattiert, ob Industrieunternehmen zusätzliche Energiepreis-Subventionen vom Staat erhalten sollen.

Aus Falcks Sicht könnten weitere Hürden den industriellen Weg in die Zukunft erschweren. „Strukturelle Nachteile für die hiesige Industrie liegen in der möglicherweise sinkenden Nachfrage infolge der Alterung der Gesellschaft und im Mangel an Arbeitskräften.“ Ja, Deutschland muss einige grundsätzliche Baustellen bearbeiten – aber ist der Begriff „Deindustrialisierung“ nicht etwas weit hergeholt? Falck: „Wenn die Politik die Rahmenbedingungen für Investitionen angemessen setzt, rechne ich nicht mit der Gefahr einer Deindustrialisierung, wohl aber mit einem starken Strukturwandel.“

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