Neuer Krieg in Äthiopien: Es geht um die Existenz
In der Region Amhara kämpft Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed mit seiner Regierung gegen Milizen. Diese ermöglichten den Sieg um die Region Tigray.
Irreguläre Amhara-Milizionäre, kollektiv als „Fano“ bekannt, hatten vergangene Woche die Kontrolle über die Provinzhauptstadt Bahir Dar, die alte Kaiserstadt Gondar, die alte Klosterstadt Lalibela und den Verkehrsknotenpunkt Dessie übernommen. Am Mittwoch wurde berichtet, die Armee habe die Milizen teilweise zurückgeschlagen, doch blieb die Lage unübersichtlich.
Die Vorgänge erinnern an den Beginn des Krieges um die Kontrolle der Region Tigray im November 2020, der in den folgenden zwei Jahren nach Schätzungen der Afrikanischen Union (AU) 600.000 Tote forderte. In Amhara verhängte Äthiopiens Zentralregierung am 4. August als Reaktion auf die Stadtbesetzungen durch Amhara-Milizen das Kriegsrecht. Das beinhaltet die Suspendierung der regionalen Institutionen, ein komplettes Versammlungsverbot sowie Hausdurchsuchungen und Festnahmen ohne Begründung.
Die Maßnahmen gelten zunächst für sechs Monate. „Illegale bewaffnete Aktivitäten“ in Amhara seien „durch reguläre Maßnahmen nicht mehr unter Kontrolle zu bringen“, erklärte Äthiopiens Ministerrat in der Hauptstadt Addis Abeba zur Begründung. Die Umsetzung des Kriegsrechts soll Äthiopiens Geheimdienstchef Temesgen Tiruneh leiten, bis zu seiner Ernennung zu Beginn des Tigray-Krieges 2020 Regionalpräsident von Amhara.
Wichtiges Tourismusziel
Am 3. August hatten Fano-Milizen den Flughafen von Lalibela besetzt – ein wichtiges Tourismusziel, um die uralten Felsenkirchen der Region zu besichtigen. In Gondar hatten die bewaffneten Auseinandersetzungen bereits am 26. Juli begonnen. Gondar und Bahir Dar waren nach BBC-Berichten am Mittwoch noch immer umkämpft. Es gibt keine gesicherten Angaben über Opferzahlen.
Der Konflikt hängt mit dem Tigray-Krieg von 2020–22 zusammen. Damals war Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed auf die Regionalarmee der Region Amhara und die als Fano bekannten Amhara-Freiwilligenmilizen angewiesen, um die in Tigray herrschende ehemalige äthiopische Regierungspartei TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) in einem sehr blutigen zweijährigen Krieg niederzukämpfen.
Tigrays Westhälfte entlang der Grenze zu Sudan ist bis heute von Amhara-Kämpfern besetzt und es hat zahlreiche wechselseitige ethnische Massaker zwischen Tigray und Amhara gegeben. Zeitweise hatten sich der Krieg und die ethnische Gewalt bis ins Umland der Hauptstadt Addis Abeba ausgeweitet, wo Rebellen der größten äthiopischen Volksgruppe der Oromo sich mit der TPLF verbündeten.
Im November 2022 schlossen Äthiopiens Regierung und die TPLF Frieden bei Verhandlungen in Südafrika. Die TPLF ist seitdem wieder in Tigray an der Macht und hat im Gegenzug ihre schweren Waffen abgegeben und 50.000 Kämpfer demobilisiert. Parallel dazu sollten sich die Amhara-Kämpfer aus Tigray zurückziehen. Aber das verweigerten diese, weil Amhara an den Friedensgesprächen nicht beteiligt waren.
Friedensschluss als Verrat
Viele Amhara-Führer sehen in Abiys Friedensschluss mit der TPLF einen Verrat. Amhara war historisch die dominante Region Äthiopiens, sowohl unter dem Kaiserreich als auch nach dessen Sturz 1975 unter der kommunistischen Militärdiktatur. Das änderte sich erst, als 1991 die TPLF mit verbündeten Guerillagruppen das Land eroberte und zwar Äthiopien zur föderalen Bundesrepublik erklärte, aber faktisch die Macht monopolisierte.
2018 verhalfen zunehmende Proteste von Amhara und Oromo dem Jungpolitiker Abiy Ahmed mit Oromo- und Amhara-Wurzeln an die Spitze der bis dahin Tigray-dominierten Regierung. Abiy entmachtete danach die alte TPLF-Elite, löste die bisherige Regierungspartei auf, ließ politische Gefangene frei, schloss Frieden mit Eritrea und predigte nationale Einheit anstelle des Föderalismus. Aber als sich die TPLF 2020 der Entmachtung in ihrer Region Tigray widersetzte, führte er einen unbarmherzigen Krieg, der ihm den Vorwurf des Völkermords durch Aushungern eingebracht hat.
Bereits im Verlauf des Krieges gegen Tigray gab es zunehmend Probleme zwischen Äthiopiens Zentralmacht und Amhara-Milizen. Ein bekannter Fano-Anführer wurde im September 2022 wegen „Aufstellung einer illegalen Gruppe“ verhaftet, insgesamt 12.000 Fano-Milizionäre sollen in den Monaten zuvor festgenommen worden sein.
Im April 2023, kurz nachdem die TPLF offiziell die Macht in Tigray zurück erhielt, verkündete Äthiopiens Regierung, alle Armeen unter Kontrolle von Regionalregierungen würden aufgelöst – also auch die in Amhara. Es kam zu Unruhen in mehreren Amhara-Städten. Am 27. April wurde der Amhara-Regionalchef von Äthiopiens Regierungspartei PP (Prosperity Party) erschossen und daraufhin kündigte die Regierung „extensive Maßnahmen gegen extremistische Kräfte“ an. Aus Amhara-Regionalsoldaten, die sich in die Streitkräfte eingliedern müssen, wurden irreguläre Fano-Milizionäre, die über Nacht zu Rebellen werden können.
Dramatische Verschlechterung der Sicherheitslage
Äthiopiens Menschenrechtskommission warnte in ihrem vor wenigen Wochen vorgelegten Jahresbericht 2023 vor einer dramatischen Verschlechterung der Sicherheitslage in Amhara, Verschwindenlassen und wahllosen Festnahmen. Bereits Ende Juni berichtete eine Amhara-Exilgruppe der taz, ihre Volksgruppe sei „einer beispiellosen Verfolgung und Verdrängung aus ihren angestammten Heimatorten“ ausgesetzt. Die aus Tigray abgezogenen Regierungstruppen „marodieren jetzt in der Amhara-Region“, mehr als eine Million Menschen seien vertrieben worden.
Inzwischen kursiert auf sozialen Netzwerken der Kampfbegriff #AmharaGenocide, so wie vor zwei Jahren #TigrayGenocide. Und eine neu gegründete „Amhara-Volksfront“ rief am Mittwoch die äthiopischen Streitkräfte auf, „alle Befehle zu verweigern, die Angriffe auf Zivilisten beinhalten. Stattdessen sollen sie sich hinter einer zu bildenden Übergangsregierung der nationalen Einheit versammeln“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen