Bürgerrechtler über Knäste in Ukraine: „Relikt aus Sowjetzeiten“
Die Ukraine will Teile ihres Strafrechts reformieren. Der Menschenrechtler Andri Didenko begrüßt die Änderungen, prangert aber weiter Missstände an.
taz: Herr Didenko, Sie beschäftigen sich für die Menschenrechtsgruppe Charkiw seit zehn Jahren intensiv mit der Lage in ukrainischen Gefängnissen. Nun stehen einige Gesetzesreformen an. Setzt das Parlament an der richtigen Stelle an?
Andri Didenko: Ich finde gut, dass man nun endlich Paragraf 391 des Strafgesetzbuchs abschaffen will. Der ist ein Relikt aus Sowjetzeiten und besagt, dass ein Gefangener, der mehrfach Anordnungen der Gefängnisverwaltung nicht nachgekommen ist, von einem Gericht zu zusätzlichen drei Jahren Haft verurteilt werden kann. Wenn er also zum Beispiel sein Namensschild nicht getragen hat, er nicht rechtzeitig aufgestanden ist, unrasiert war, in einen Konflikt verwickelt war. Das heißt, man kann für eine Sache zweimal bestraft werden: entsprechend der Gefängnisordnung und dann auch noch strafrechtlich.
In der Praxis sieht das so aus: Zuerst erhält der Häftling für sein Fehlverhalten eine Rüge und muss in die Strafzelle. Das können bis zu 14 Tage sein. Dann kommt er für drei Monate in eine andere Strafzelle, allerdings mit etwas weniger strengem Regime. Da darf man zum Beispiel rauchen. Und anschließend wird er nach Paragraf 391 Strafgesetzbuch zur Verantwortung gezogen. Gut, dass man sich endlich an die Abschaffung dieses Paragraphen macht.
Ihre NGO, die Menschenrechtsgruppe Charkiw, besucht regelmäßig Gefängnisse, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Geht das, ohne sich vorher anzumelden?
55, ist Mitglied der Charkiwer Menschenrechtsgruppe und befasst sich mit Misshandlungen bei der Polizei und in Haftanstalten. 2002 wurde er wegen Entführung in großem Stil und Besitz von Waffen und Drogen angeklagt und saß acht Jahre in Haft, wo er selbst Folter erfahren hat. Die Verbrechen hat er nach eigenen Angaben nicht begangen.
Menschenrechtler, die sich für die Lage von Häftlingen interessieren, suchen sich in der Regel einen Abgeordneten, der sie als Mitarbeiter führt. Auch ich bin Mitarbeiter eines Abgeordneten, wenn auch ehrenamtlich. Als solcher habe ich aktuell das Recht zu unangekündigten Besuchen in Gefängnissen. Doch dieses Recht soll nun abgeschafft werden.
Warum sind diese Besuche so wichtig?
In einigen Haftanstalten sind die Bedingungen und der Umgang mit den Häftlingen schrecklich. Da herrscht eine Atmosphäre der Einschüchterung. Da haben Häftlinge natürlich Angst, sich zu beschweren. Wir erfahren von Schlägen und sogar Folter oder anderem brutalem Umgang erst dann, wenn die Personen wieder in Freiheit sind oder wenn sie in ein Krankenhaus oder einen anderen externen Ort gebracht werden.
Deswegen sind die Besuche in diesen Haftanstalten so wichtig. Wir sprechen die Menschenrechtsverletzungen immer wieder öffentlich an und informieren das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe sowie die UNO-Menschenrechtskommission über unsere Kenntnisse. Dadurch haben sich die Haftbedingungen und vor allem der Umgang mit den Häftlingen verbessert.
Können sich die Gefangenen direkt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden?
Ja, aber in der Praxis scheitert es oft an der Umsetzung. Ein Beispiel: Der Häftling Ruslan Ilin hat ein Tablet und kann per Mail mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kommunizieren. Der wollte die Kommunikation über eine Online-Plattform fortsetzen. Die jedoch hat die Haftanstalt blockiert. Das ist eine eindeutige Verletzung der Rechte des Häftlings.
Gibt es viele Beschwerden von Häftlingen über unmenschliche Bedingungen?
Ich habe alle Strafkolonien in der Ukraine angeschrieben, um zu erfahren, wie häufig sich Verurteilte schriftlich an den Menschenrechtsbeauftragten des Parlamentes, an einen Staatsanwalt oder Rechtsanwalt oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden. 87 Haftanstalten haben geantwortet. Davon haben 37 gesagt, dass sie in anderthalb Jahren weniger als fünf Beschwerden hatten. Bei den anderen 50 lagen die Zahlen höher.
Können Sie uns einige Menschenrechtsverletzungen nennen?
Es gibt ein Gefängnis im Gebiet Chemlnizkij, ein ehemaliges Kloster. Da hatte es immer wieder Hungerstreiks gegeben, Gefangene hatten sich die Venen aufgeschnitten. Grund waren unmenschliche Behandlung und sogar Folter. Dort gab es zum Beispiel die Kältefolter. Wir haben dort im vergangenen Winter elf Grad gemessen. Nachdem wir dort waren und das angesprochen haben, hat sich die Situation deutlich gebessert.
Ein weiteres Beispiel ist die Haftanstalt Nummer 77 von Berdjansk (derzeit unter russischer Besetzung; d. Red.). Dort sind die Häftlinge nackt geschlagen worden. Man hatte sie so im Hof stehen lassen, mit infizierten Nadeln gestochen, einige Tage mit Klebeband ans Bett gebunden. Da lagen sie in ihrem Kot, der Körper wurde von Würmern angegriffen. All das hat man gemacht, weil man Geld von den Angehörigen erpressen wollte. Als Folge unserer Besuche wurden der Chef der Haftanstalt und sein Stellvertreter wegen Folter und der Gründung einer kriminellen Vereinigung angezeigt und festgenommen.
Würden Sie sagen, die Häftlinge haben faire Gerichtsverfahren bekommen?
Ich weiß von 20 Personen, die unschuldig lebenslänglich bekamen. Sie haben die Taten, derentwegen sie angeklagt sind, nicht begangen. Außerdem sind sie noch nach der alten sowjetischen Prozessordnung verurteilt worden, die bis 2012 galt. Ihre Geständnisse hat man mit Folter erpresst. Das haben sie vor Gericht gesagt. Und dass sie zum Tatzeitpunkt ganz woanders waren. Trotzdem wurden sie verurteilt. Sie konnten nicht einmal in Berufung gehen.
Wie sieht es mit Resozialisierungsmaßnahmen aus?
Ich finde, der Staat sollte sich um diese Menschen mehr kümmern. Sie haben oft niemanden, der auf sie wartet. Sie sind voller Wut darüber, wie man sie behandelt hat. Die Häftlinge sitzen 10, 15 Jahre, arbeiten die ganze Zeit und bekommen gerade einmal 10 Euro im Monat. Und dann wird ihnen die Zeit auch nicht auf ihre Lebensarbeitszeit angerechnet. Also haben sie auch keine Rentenansprüche. Was sollen sie machen? Sie fangen erneut an zu klauen, zu töten, zu rauben. Sie haben gar keine Wahl.
Gibt es keine Sozialarbeiter, die sich nach der Entlassung um die ehemaligen Gefangenen kümmern?
In der Gesellschaft gibt es, und das ist auch ein Relikt aus der Sowjetzeit, große Vorurteile. Ein ehemaliger Sträfling ist in den Augen der Gesellschaft ein Nichtsnutz, ein Mensch, der keine Beachtung verdient. Und nein, Sozialarbeiter gibt es keine, die sich um sie kümmern würden.
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