3 kleine Jungen in Schutzwesten stehen breitbeinig vor einem Weihnachtsbaum

Kinder im Hotel „Richelieu“ Foto: Volodymyr Kutsenko

Cherson unter russischer Besatzung:Das Hotel der Geretteten

Das „Richelieu“ in Cherson hat schon lange keine Touristen mehr gesehen. Stattdessen leben hier Geflüchtete – dank des Engagements der Betreiber.

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18.1.2023, 08:03  Uhr

Ihr Lieben, ihr seid frei!“ – so begrüßt die Stadt Cherson schon bei der Einfahrt mit großen Werbeleuchttafeln. Der Appell richtet sich freilich weniger an die Neuankömmlinge, sondern eher an die Chersoner selbst. Schließlich waren sie es, die fast acht Monate lang unter russischer Besatzung gelebt haben und erst Mitte November befreit wurden.

Seit dem Rückzug der russischen Streitkräfte auf das linke Ufer des Dnjepr ist die Metropole das Ziel häufigen Artilleriebeschusses. Die lokalen Behörden listen auf, dass seitdem 896 Objekte beschädigt worden sind. Davon seien 771 Wohngebäude, 44 Bildungseinrichtungen und 34 zählten zur Infrastruktur. Bis zum Erscheinen dieses Textes dürften die Zahlen noch einmal gestiegen sein.

Doch die Furcht der Einwohner von Cherson ist nicht neu. Sie sitzt den Chersonern in den Knochen, seit die Stadt ins Visier der russischen Streitkräfte geriet und Anfang März letzten Jahres besetzt wurde. Sie hat aber auch zu bemerkenswerten Akten der Solidarität geführt.

Vom Hotel zum Flüchtlingsheim

Als die Russen die Stadt kurz nach Kriegsbeginn eroberten, war der 36-jährige Serhij Rybalchenko bereits seit mehreren Jahren als Manager eines der zentralen Hotels in Cherson beschäftigt. Nun übertrug ihm die Geschäftsführung die Verwaltung des Komplexes. Das Hotel nennt sich „Richelieu“. Der Name geht ausgerechnet auf den französischen Herzog in russischen Diensten zurück, der 1805 zum Generalstatthalter Chersons ernannt wurde.

Reisende, Touristen gar, waren nach dem russischen Einmarsch nicht mehr zu erwarten. Rybalchenko berichtet: „Mit dem Ausbruch der Kämpfe in unserer Gegend begann ein Zuwanderungsstrom von Menschen nach Cherson, die ihr Dach über dem Kopf verloren hatten. Wir öffneten die Türen unseres Hotels. Für viele von ihnen war es die Rettung“, so erinnert sich der Mann, der vor der mit Folie und dunklem Stoff bedeckten Tür des Hotels steht. Die Folie dient der Verdunkelung. Gegen Raketen schützt sie nicht: „Vor ein paar Tagen ist eine Rakete nur ein paar Dutzend Meter von uns entfernt eingeschlagen. Die Gebäude in der Umgebung wurden beschädigt, aber wir hatten einfach Glück“.

Ein Mann u nd eine Frau stehen vor einem Gebäude auf der Eingangstreppe

Jetzt andere Gäste: Der Manager des „Richelieu“ und seine Frau vor dem Eingang Foto: Volodymyr Kutsenko

Ein Hotel und keine normalen Gäste also. Der Manager erzählt: „Schon Ende Februar trafen die ersten Geflüchteten vor unserer Haustür ein. Es waren Menschen aus Cherson selbst und aus Dörfern, die beschossen wurden. Meistens kamen die Leute nur für ein paar Tage hierher, bevor sie weiterzogen. Aber einige blieben die ganze Zeit, weil sie nirgendwo anders hin konnten.“ So wurde aus dem Hotel eine Notunterkunft für Binnenvertriebene.

Das Schicksal von Natalia

Eine von ihnen trägt den Vornamen Natalia und kommt aus dem Dorf Oleksandrivka. Sie lebt seit mehr als sechs Monaten mit ihren vier Kindern und ihrer älteren Schwiegermutter in dem Hotel. Ihr Heimatdorf sei von den Besatzern völlig zerstört worden, berichtet die Frau, und obwohl es nicht besetzt worden ist, hätte sie dort kein Zuhause mehr gehabt. Personal vom Roten Kreuz habe sie hierher gebracht. „Es war sehr beängstigend, wir wurden furchtbar bombardiert. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt ein Dach über dem Kopf haben“, sagt sie. Sie versucht es zu vermeiden, Fragen über die Zukunft zu beantworten. Die meisten der ständigen Be­woh­ne­r*in­nen des Zentrums haben ähnliche Geschichten wie Natalia.

„Bei uns ist fast alles absolut kostenlos. Komfortable und saubere Zimmer mit Duschen, drei Mahlzeiten am Tag, relative Sicherheit und vor allem eine freundliche Atmosphäre“, erklärt Anastasia, die Frau von Serhij Rybalchenko, dem Verwalter. Im Gegenzug wird erwartet, dass sich die Be­woh­ne­r*in­nen an die festgelegten Regeln für den Aufenthalt halten.

Die Stadt Cherson ist eine Hafenstadt im Mündungsgebiet des Dnjepr im Süden der Ukraine. Sie besaß bis zum Beginn der russischen Invasion knapp 300.000 Einwohner. Die Stadt ist ein Eisenbahnknotenpunkt und verfügt über einen Flughafen.

Geschichte Die Stadt wurde 1778 auf Weisung der russischen Zarin Katharina II. gegründet. Straßen, Plätze und Gebäude waren im Schachbrettmuster angeordnet.

Krieg und Besatzung Ende Februar 2022 besetzten russische Truppen Cherson. Rund die Hälfte der Bevölkerung begab sich auf die Flucht in die freien Gebiete. Ende September desselben Jahres erklärte Russland die Stadt und umliegende Gebiete zum Teil seines Territoriums. Am 11. November gelang der ukrainischen Armee die Rückeroberung von Cherson. Russische Truppen befinden sich weiter am anderen Ufer des Dnjepr und beschießen die Stadt regelmäßig. (taz)

„Wir haben kein Personal mehr, also machen wir alles selbst und füreinander. Wir haben die Verantwortlichkeiten aufgeteilt – jemand putzt, jemand kocht, jemand kümmert sich um die Kinder. In dieser Zeit sind wir füreinander zur Familie geworden“, sagt die junge Frau und lächelt. Sie und ihr Mann würden von drei weiteren Personen unterstützt.

Die Arbeit in dem Hotel, das keines mehr ist, wird hauptsächlich von Spenden aus anderen Regionen der Ukraine und aus europäischen Ländern sowie von Hilfsorganisationen und internationalen Stiftungen finanziell unterstützt. Die Geflüchteten zahlen selbst für die Lebensmittel.

Anastasia Rybalchenko, Helferin

„Das Hotel ist für 150 Personen ausgelegt, aber wir hatten einen Tag, an dem 390 da waren. Wir haben es geschafft, alle aufzunehmen.“

Derzeit leben etwa 40 Menschen im „Richelieu“. Die meisten von ihnen sind Frauen mit ihren Kindern und ältere Menschen. Die härteste Zeit hätten sie im letzten Sommer überstanden, als eigentlich viel zu viele Menschen in die Unterkunft strömten, sagt Anastasia Rybalchenko. „Das Hotel ist für 150 Personen ausgelegt, aber wir hatten einen Tag, an dem 390 Personen im Haus waren. Wir haben es irgendwie geschafft, alle aufzunehmen“, erinnert sich die Frau.

Die meisten dieser Menschen hätten darauf gewartet, in die ukrainisch kontrollierten Städte Mykolajiw und Saporischschja evakuiert zu werden. „Von Cherson nach Mykolajiw sind es 60 Kilometer oder eine Stunde mit dem Auto. Während der Besatzung brauchte man für diese Fahrt zwei bis drei Tage und musste dabei zahlreiche russische Kontrollpunkte passieren. In das 360 Kilometer entfernte Saporischschja dauerte die Reise für Männer mehr als eine Woche“, sagt Serhij Rybalchenko, der dabei half, die Evakuierung zu organisieren. Frauen und Kinder seien die ersten gewesen, die herausgeholt wurden.

Ein junger Mann steht in einer Großküche und bereitet Essen ,vor ihm geschnittene Kartoffeln

Koch Artem hat eine abenteuerlich Flucht hinter sich gebracht Foto: Volodymyr Kutsenko

„Wir haben hier alle zusammen viel durchgestanden. Wir haben sogar Kinder getauft. Leider gab es auch Beerdigungen, aber wir warten auch auf die Geburt unseres ersten Kindes im Frühjahr“, sagt Anastasia, während sie durch das Hotel führt.

Holzfeuer bei Stromausfall

Die beiden obersten Etagen des siebenstöckigen Gebäudes stehen aus Sicherheitsgründen leer. Das Hotel verfügt über einen Keller, in dem die Be­woh­ne­r*in­nen während des Beschusses Schutz suchen, aber es ist schwierig, sich dort länger aufzuhalten, da der Raum nicht nur ungeheizt, sondern auch viel zu eng ist, um alle Menschen aufzunehmen.

Im sichersten Flügel in den unteren Etagen hat man eine Art Kindergarten eingerichtet. Ein weiterer großer Raum dient der Bevorratung mit Wasser und Lebensmitteln. Im Innenhof des Hotels entstand eine Feldküche mit einem Vorrat an Brennholz, für den Fall, dass der Strom ausfällt. „Es gab eine Zeit, in der wir in allen umliegenden Straßen Äste für das Feuer gesammelt haben“, erinnert sich Oleksandr, ein Helfer von Serhij und Anastasia Rybalchenko.

Angesichts des Dauerbeschusses von Cherson haben die Mitarbeiter und Freiwilligen inzwischen eine neue Tätigkeit aufnehmen müssen: Sie decken die Fenster der von Druckwellen beschädigten Häuser mit Folie und Sperrholz ab. Die Erinnerung an die Zeit der Besatzung beginnt dagegen langsam zu einem schlechten Traum zu verblassen.

Konfrontation mit den Besatzern

„Wir wurden ständig vom russischen Militär, der Polizei und dem Geheimdienst FSB besucht. Einige wollten hier einziehen, andere wollten wissen, was wir hier machen und warum wir ihnen eine Unterkunft verweigern. Kein einziger russischer Militäroffizier war bei uns“, betont Anastasia mit Nachdruck und erinnert sich daran, wie höflich sie bei den Gesprächen bleiben musste und ihre Verachtung nicht zeigen durfte. Die ukrainische Flagge, die jetzt wieder an der Rezeption hängt, lag währenddessen in einer Tasche unter einem Kühlschrank.

Die Tarnung hat nicht in jedem Fall geklappt: Einer der Gäste erstattete nach der Abreise eine Anzeige bei der Militärpolizei, in der er Anastasia der „Schürung des Nationalismus“ beschuldigte. Schließlich musste sie sich vor den Besatzungsbehörden rechtfertigen. Auch ihr Assistent Maxym ergänzt: „Ich sagte einmal versehentlich ‚Guten Tag‘ auf Ukrainisch statt auf Russisch zu einem der Besatzer, was ihn misstrauisch machte. Danach habe ich mehrere Wochen lang versucht, nirgendwo unnötig aufzutauchen.“

Auch Serhij Rybalchenko geriet ins Visier, berichtet er: „Sie riefen an und baten mich, das Hotel zu verlassen. Draußen wartete ein schwarzer Wagen mit getönten Scheiben auf mich, und ein Mann in Uniform und mit einem Maschinengewehr machte mir klar, dass er auf mich wartete. Einer stellte Fragen, ein anderer saß schweigend da und der dritte drückte ständig auf die Sicherung seines Maschinengewehrs.“

Landkarte

„Die ganzen 23 Minuten, die Serhij in ihrem Auto saß, stand ich vor der Tür des Hotels. Ich glaube, ich bin in dieser Zeit fast ergraut“, erinnert sich Anastasia.

Obwohl die russische Armee seit ihrem Abzug Cherson täglich beschießt, beschloss das Betreiber-Ehepaar des ehemaligen Hotels, am Silvesterabend für alle Bewohner ein großes Familienessen mit traditionellen hausgemachten Gerichten zu organisieren. Die Vorbereitung übernahm der 23-jährige Artem, der Chefkoch des Hauses.

Die Flucht des Chefkochs

Der stammt aus Donezk. Als die Russen 2014 einen Teil der Region besetzten, war Artem gerade einmal 15 Jahre alt. Er wuchs bei seiner Großmutter auf, die dem Untergang der Sowjetunion nachtrauerte. „Ich gestehe, ich habe Russland unterstützt. Ich bereue es, aber woher sollte ich, der ich als Kind unter diesen Bedingungen aufgewachsen bin, andere Informationen bekommen?“, sagt der junge Mann. In Donezk machte er eine Ausbildung zum Koch und arbeitete als Barkeeper.

„Ich hatte Angst, mich in das ukrainisch kontrollierte Gebiet zu begeben, weil ich dachte, dass ich sofort zur Armee eingezogen würde. Aber als mein Onkel mir vorschlug, ihn in Mariupol zu besuchen und als Koch auf seinem Fischerboot zu arbeiten, beschloss ich, die Chance zu nutzen“, erinnert sich Artem.

Den Beginn der russischen Invasion vor elf Monaten erlebte Artem auf dem Schiff, das gerade von der See zurückgekehrt war. Die Crew beschloss, an Bord zu bleiben, da Mariupol bereits von Wasser und Land aus beschossen wurde. „Unser Schiff stand an einem der Liegeplätze von Azovstal. Das Militär, das die Verteidigung des Stahlwerks hielt, half uns manchmal mit Lebensmitteln und teilte uns Nachrichten mit, weil wir überhaupt nichts wussten und nicht verstanden, was vor sich ging“, erinnert er sich an die Tage Anfang März 2022. Dann begann der Beschuss.

„Ich beschloss, zum Theater zu gehen, weil ich gehört hatte, dass sich dort Menschen verstecken. Ich bin zwei Tage lang von der Werkstatt ins Stadtzentrum gelaufen, weil ich mich vor dem Beschuss in den Eingängen und Kellern der Häuser verstecken musste“, sagt Artem, macht eine Pause, um dann fortzufahren: „In einem der Häuser sah ich eine Frau gebären. Sowohl sie als auch das Baby sind gestorben“.

Artem gelang es nach seiner Schilderung, das Theater zu verlassen, bevor es zerstört wurde. Der junge Mann beschloss, von Mariupol in eine andere Hafenstadt, nach Berdjansk, zu laufen.

In einem Speisesaal ist ein Tisch festlich mit Essen und Sekt eingedeckt, traurige Menschen im trüben Licht im Raum

Trotz allem: Das Festessen zu Silvester im „Richelieu“ Foto: Volodymyr Kutsenko

Für diesen Weg benötigte er etwa vier Tage. An jedem russischen Checkpoint um die eingekesselte Stadt sei er verhört worden. Man habe ihn nackt ausgezogen, um seine Tätowierungen zu überprüfen. „Ich bin groß, bärtig und habe ein großes Tattoo. Die Russen sahen mich als Asow-Kämpfer“, sagt Artem.

Nachdem er schließlich Berdjansk erreicht hatte, beschloss der Junge kurz darauf, in das bereits besetzte Cherson zu gehen. Ohne Bekannte oder Beziehungen landete er im Zentrum für Binnenflüchtlinge. Dort übernahm er das, was er liebt und kennt – die Küche.

Die Silvesternacht im „Richelieu“

In der Silvesternacht versammeln sich alle Be­woh­ne­r*in­nen des Zentrums um einen festlichen Tisch, als wären sie eine große Familie. Am geschmückten Weihnachtsbaum tragen die Kinder Silvestergedichte vor. Der zehnjährige Vanja ist ein wenig aufgeregt, aber alle unterstützen ihn mit Lächeln und Applaus. Genau um Mitternacht startet das russische Militär einen Angriff auf Cherson. Die Erwachsenen versuchen, die Aufmerksamkeit der Kinder mit Geschenken von den Explosionen abzulenken – und es gelingt ihnen.

Eine richtige Festtagsstimmung will nicht aufkommen, trotz des guten Essens, der feinen Kleider und frischen Frisuren der Frauen. „Wir alle wollen das scheidende Jahr wie einen schlechten Traum vergessen. Lassen Sie dieses Jahr, zusammen mit den Russen, in der Vergangenheit liegen. Und möge das nächste Jahr nur Gutes bringen. Gott bewahre uns davor, dass wir jemals wieder in unserem Leben das erleben, was wir in diesem Jahr erlebt haben“, wendet sich Serhij Rybalchenko an die Versammelten. Um Mitternacht hebt er ein Glas Champagner. „Frohes neues Jahr!“

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