Von Streikmüdigkeit ist weiter nichts zu sehen

Obwohl in Frankreich die Rentenreform nach der Niederlage des Misstrauensvotums der Opposition als angenommen gilt, geht der Widerstand dagegen weiter und weitet sich aus

Linke Abgeordnete protestieren am Montag in der Nationalversammlung gegen die Rentenreform sowie gegen die Umgehung des Parlaments Foto: Lewis Joly/ap

Aus Paris Rudolf Balmer

Bei Frankreichs wichtigstem Ölhafen Fos-sur-Mer bei Marseille haben Gewerkschafter am Dienstag die Zufahrten der Treibstoffdepots und der Raffinerie aus Protest gegen die von den Behörden angeordnete Zwangsverpflichtung von Streikenden blockiert. Rasch stieg die Spannung, als die Polizei versuchte, Demonstrierende gewaltsam mit Tränengas zu vertreiben. In Marseille rief Ex-Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon von der linken La France insoumise seine Anhänger auf, die Streikenden von Fos-sur-Mer gegen die „illegalen“ Zwangsverpflichtungen zu unterstützen.

Der Widerstand gegen die unpopuläre Rentenreform weitet sich zu einer politischen und sozialen Krise aus. Seit Tagen gibt es jeden Abend Proteste in zahlreichen Städten. Trotz eines Verbots an verschiedenen Orten haben auch am Montagabend wieder Tausende demonstriert. Die Polizei wird beschuldigt, in mehreren Städten ohne Vorwarnung Tränengasgranaten auf Demonstrierende geschossen zu haben.

In Paris waren es vor allem sehr junge Leute, die sich in Kleingruppen sehr schnell durch die Straßen bewegten und dabei Müllhaufen anzündeten. Die Polizei hatte Mühe, die sehr beweglichen Gruppen zu kanalisieren oder aufzulösen. Trotz Tränengas und Polizeiangriffen gelang es den Demonstrierenden, sich im Stadtzentrum zu treffen, zuerst bei der Opera Garnier und später auf dem Bastille-Platz. Mehr als 250 Personen wurden festgenommen.

Es geht den Demonstrierenden längst nicht mehr nur um die verhasste Rentenreform, sondern auch um die Legitimität der Staatsführung. Bei den Kundgebungen werden Rufe nach „Demission“ von Premierministerin Elisabeth Borne und Präsident Emmanuel Macron laut. Da am Montag zwei Misstrauensanträge eine Mehrheit verfehlten, ist der Versuch der Opposition, die Regierung Borne auf diesem Weg zu stürzen und zugleich die Rentenreform zu kippen, gescheitert.

Offiziell kann die Staatsführung nun ihre Vorlage als angenommen betrachten, obwohl die Abgeordneten der Nationalversammlung nicht darüber abstimmen durften. Aus Sicht der Regierung ist damit die Diskussion zu Ende. Die Rentenreform soll trotz massiver Ablehnung und Proteste in Kraft treten.

Die linke Opposition will jetzt gegen die Rentenreform eine Volksabstimmung organisieren

Um Tempo zu machen, hat Borne angekündigt, dass sie „so rasch wie möglich“ die neuen, von ihr durchgeboxten Regeln für den Bezug der Altersrenten dem Verfassungsgericht zur Begutachtung vorlegen wolle. Sie will damit den Oppositionsparteien zuvorkommen, die Verfassungsklagen gegen Inhalt und Form der Reform wie gegen das Vorgehen der Regierung angekündigt haben. Mehrere Juristen erwarten, dass die Verfassungsrichter zumindest einen Teil der neuen Bestimmungen für verfassungswidrig erklären könnten.

Die linke Opposition unterstützt den Widerstand auf der Straße, will aber als Antwort auf die ohne Votum der gewählten Volksvertretung beschlossenen Rentenpolitik eine Volksabstimmung organisieren. Das wäre in Frankreich theoretisch möglich, wenn mindestens ein Zehntel der Abgeordneten zustimmen und mindestens ein Zehntel der Wahlberechtigten dies mit ihrer Unterschrift wünschen. Das bedeutet, dass in wenigen Wochen fast 5 Millionen Unterschriften gesammelt werden müssen. Das hört sich mühsam an und erklärt, warum bisher so noch nie die Bevölkerung konsultiert wurde.