Essay von Lukas Bärfuss: Drahtseilakt über den Abgrund

„Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben“ heißt der neue Essay von Lukas Bärfuss. Darin sinniert der Schweizer über Familie, Armut und Zufall.

Porträt von Lukas Bärfuss in einem Treppenhaus

Lektüre gleicht einem wilden Ritt: Autor Lukas Bärfuss (hier 2019) Foto: Boris Roessler/dpa

Seinen Nachkommen Schulden zu hinterlassen, war für die alten Römer kein Problem. Sie schufen sich einfach einen „Necessarius heres“, einen Zwangserben, wie Lukas Bärfuss in den Schriften des römischen Juristen Gaius entdeckt hat. Das war in der Regel ein Sklave, der, ob er wollte oder nicht, nach dem Tod des Erblassers seine Freiheit bekam, zugleich aber dessen Erbe antreten musste. Mit der für die Familie schönen Konsequenz, dass die Nachkommen des Verstorbenen von der „venditio bonorum“, dem Ehrverlust durch antike Insolvenz, verschont blieben.

Als der Schweizer Autor selbst seinerzeit das Erbe seines Vaters antreten sollte, das aus nichts als Schulden bestand, wählte er dagegen den zeitgemäßen Weg, wie er ein Vierteljahrhundert später schreibt: Er habe dieses Erbe einfach ausgeschlagen, denn „ich war ja nicht verrückt. Mit einem Brief an den Regierungsstatthalter teilte ich der Öffentlichkeit mit, das ich auf alle Ansprüche verzichtete.“ An das damit verbundene Gefühl der Scham erinnert er sich freilich bis heute. „Es war demütigend, seine Schulden nicht bedienen zu können. Auch in meiner Gesellschaft, zweitausend Jahre nach dem lieben Gaius, blieb der Privatkonkurs ein Kainsmal.“

Nur eine alte Bananenkiste mit letzten Lebenszeugnissen blieb Bärfuss damals von seinem Vater. Und selbst mit ihr habe er nichts zu tun haben wollen, bekennt Bärfuss in seinem neuen Buch, dem Essay „Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben“. Warum nicht, das wird deutlich, als er ihren Inhalt zu guter Letzt beim Ausmisten der Wohnung doch noch einmal inspiziert, „mit zugeschnürtem Hals“ und, schließlich ist gerade Pandemie, bereitgelegten Gummihandschuhen.

Konfrontation mit der Vergangenheit

Denn der zeitlebens glücklose Vater war das „schwarze Schaf“ der Familie. Jahrelang saß er sogar im Gefängnis, wegen allerlei Betrügereien; zu einer richtigen kriminellen Karriere habe ihm aber das Talent gefehlt, glaubt Bärfuss. Seine Mutter, die damals als Bardame arbeitete, tat alles, um ihren Sohn von ihrem Ex, dem „zwanghaften Lügner“, fernzuhalten.

Lukas Bärfuss: „Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 96 Seiten, 18 Euro

Am Ende ließ sie ihren Sohn jedoch selbst im Stich: Mit 15 Jahren bekam Bärfuss ein Stipendium für eine Volksschullehrerausbildung, Geld, das sein Leben damals hätte ändern können – und mit dem sich die Mutter auf- und davonmachte.

So führt die „Examination“ des Kisteninhalts vor allem zu einer unliebsamen, aber vielleicht überfälligen Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit: Denn der deprimierende Haufen aus vergilbten Mahnungen, Pfändungsankündigungen und Schreiben vom Konkursrichter an den toten Vater erinnert den heute 50-Jährigen an den eigenen allzu langen Drahtseilakt über dem Abgrund, an ein „Leben im Dreck“ als Heranwachsender, zuletzt sogar auf der Straße, ehe eine Anstellung in einer Berner Buchhandlung es ihm ermöglichte, seinen Traum von einer Schriftstellerkarriere zu verwirklichen.

Doch wie wenig gefehlt hat, um auch sein Leben im „Schuldturm“ enden zu lassen, erkennt der Autor erst heute.

Schon seit einigen Jahren tritt der Büchnerpreisträger von 2019, der in seinen Romanen und Stücken kaum ein gesellschaftlich heißes Eisen ausgelassen hat, zunehmend auch als Essayist in Erscheinung (zuletzt „Die Krone der Schöpfung“, 2020). „Vaters Kiste“ ist Bärfuss’ bislang persönlichster Text und über weite Strecken berührend zu lesen.

Doch wird auf seinen knapp hundert Seiten die eigene Lebens- und Familiengeschichte nicht um ihrer selbst willen erinnert. Sie dient dem Autor nur als Anlass für weit – manchmal zu weit – ausgreifende Reflexionen: über die Bedeutung von Familie, ein Aufwachsen in Armut unter den spezifisch Bedingungen in der Schweiz oder die Frage, ob und wie man dem Zufall der eigenen Herkunft einen Sinn abtrotzen kann.

Die Angst, weggesperrt zu werden

Das gelingt in der ersten Hälfte des Textes besser als in der zweiten. Etwa wenn es um die Frage geht, warum seine Mutter stets bemüht war, den Gang zum Sozialamt zu vermeiden. Dazu war das staatliche schweizerische Fürsorgesystem der 1970er Jahre noch viel zu sehr vom Gedankengut der Eugenik, dieser „besonders aggressiven Variante der Herkunftsobsession“, bestimmt, erinnert Bärfuss.

Als alleinerziehende, in der „Halbwelt“ arbeitende Mutter und dazu noch Tochter eines Roma-Vaters habe sie stets damit rechnen müssen, zum Wohle der Schweizer Gesellschaft weggesperrt zu werden.

Leicht verständlich ist daher auch, warum der Autor unter diesen Vorzeichen selbst zeitlebens der Idee der Herkunft misstraute, dieser „Obsession, sich über seine Vorfahren zu definieren“. Herkunftserzählungen, so Bärfuss, seien wenig mehr als zweckdienliche Konstruktionen und hätten in der Geschichte regelmäßig auf direktem Weg in Ideologien oder kriegsdienliche Mythologien geführt, siehe Hitlers Germanenkult oder aktuell Putins Panslawismus.

Umso mehr irritiert es, dass Bärfuss dabei mit keinem Wort auf die heutigen Debatten über die Identitätspolitik von Minderheiten eingeht, in denen der Rekurs auf die eigene Herkunft ja gerade dem Em­powerment dienen soll.

Wichtige Fragen werden auch in der zweiten Essayhälfte gestellt, etwa die, warum der Zugang zu Grundbesitz noch immer meist von der Herkunft bestimmt wird oder die Teilhabe an Bildung oder sozialer Sicherheit von der richtigen Nationalität. Dennoch gleicht die Lektüre hier zunehmend einem wilden Ritt.

Mal geht es um Darwin, Wittgenstein oder Kafka, mal um Alternativen zum Konzept des Privateigentums, die Klimakrise, also die Frage, welches Erbe auf nachfolgende Generationen zukommt (und zwar ohne die Möglichkeit, es auszuschlagen), oder sogar um das „kategorielle Denken“ des „vernünftigen westeuropäischen Menschen“, das offenbar für die meisten Übel der Welt verantwortlich sein soll. Gerade was Letzteres angeht, würde man gern wissen, mit welchen Kategorien eigentlich der, sagen wir, vernünftige asiatische Mensch so denkt.

Eine Überraschung hielt die väterliche Bananenkiste übrigens doch noch für den Sohn bereit. Nämlich die Erkenntnis, wie einfallsreich sein Vater ein ums andere Mal seine Vita frisierte, um seinen Gläubigern zu entkommen, dass er also letztlich ein Geschichtenerzähler war. „Ich will ihm danken für dieses Erbe und, sobald ich die Papiere wieder in die Kiste gepackt und die Ziffern der Hölle vergessen habe, ein Glas auf den Reichtum trinken, den er mir hinterlassen hat, ein Reichtum, der größer wird, je öfter ich ihn teile.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.