Rechte Drohserie „NSU 2.0“: Ein Urteil mit Leerstellen
Alexander M. soll über Jahre Drohbriefe verschickt haben. Jetzt muss er fast sechs Jahre in Haft. Eine Frage bleibt: Waren auch Polizisten involviert?
Es ist das vorläufige Ende einer Drohserie, die fast drei Jahre die Bundesrepublik beschäftigte – und bis heute einen schweren Verdacht auf die Polizei legt. Von 2018 bis 2021 erreichten Schreiben eines „NSU 2.0“ vor allem prominente Engagierte gegen Rassismus – Linken-Chefin Janine Wissler, die NSU-Opferanwältin Seda Başay-Yıldız, taz-Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah oder Comedian Jan Böhmermann.
„Scheißtürken“ oder „Volksschädlinge“ seien sie, hieß es in den mehr als 100 Schreiben, versehen mit Todesdrohungen. Und, das Brisante: teils auch mit privaten Daten, die zuvor auf Polizeirevieren in Frankfurt/Main, Wiesbaden oder Berlin abgerufen wurden – Adressen, Handynummern, Namen von Angehörigen. Bis im Mai 2021 Alexander M. in Berlin verhaftet wurde. Ein vorbestrafter, langzeitarbeitsloser, alleinstehender Informatiker.
Seit Februar wurde gegen den 54-Jährigen nun vor dem Landgericht Frankfurt/Main verhandelt. Alexander M. bestritt die Vorwürfe, auch am Donnerstag nochmal, in einem fast anderthalbstündigen Schlusswort. In keinem Fall hätten sich die Vorwürfe gegen ihn bestätigt, liest er berlinernd von einem Blätterstapel vor, über dutzende Seiten.
Er sei nur Teil einer Darknetgruppe gewesen, von der aus die Schreiben verschickt wurden. Selbst habe er aber keines verschickt und sei früh aus der Gruppe geflogen. Er entschuldigt sich für die Mitgliedschaft in der Gruppe, „sowas mache ich nie wieder“. Auch bei Başay-Yıldız entschuldigt er sich, aber wohlfeil: Anders als andere habe sie „keine Hasstiraden gegen Deutschland“ getätigt. Die Drohungen seien aber nie ernst gemeint gewesen, behauptet M.. „Eine Gefährdung vermag ich auszuschließen.“ Nur, woher will er das wissen? Der Staatsanwaltschaft wirft er dafür „unverschämte Lügen“ vor, sie wolle ihn „um jeden Preis fertig machen“. Die lässt es stoisch über sich ergehen. Später kündigt sie an, ein Verfahren wegen Beleidigung einzuleiten.
Kein Zweifel an der Schuld des Angeklagten
Richterin Distler aber hat keinen Zweifel, dass Alexander M. hinter den Schreiben steckt. Und sie erinnert zunächst an Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Menschenwürde ist unantastbar. Die „NSU 2.0“-Serie aber habe genau die verletzt. Es sei kaum vorstellbar, was die Drohungen mit den Betroffenen gemacht hätten, erklärt Distler. Vor allem, als auch Gewalt gegen deren Kinder angedroht wurde. „Sie haben das Leid der Betroffenen mit jedem neuen Schreiben erhöht“, sagt sie Alexander M. Der hört mit verschränkten Armen zu, gähnt.
Dann listet Distler noch einmal alle Indizien gegen M. auf. Fragmente einiger Drohschreiben auf seinem PC, Suchanfragen zu Bedrohten oder Zugangsdateien zum Yandex-Emailpostfach, von dem aus die Schreiben verschickt wurden – und auch eine Antwort auf eine taz-Anfrage verschickt wurde, in dem die Urheberschaft für die Serie eingeräumt wurde, wie Distler erinnert. Dazu käme die „akzentuierte Persönlichkeit“ des Angeklagten, sein Schreibstil, der sich mit den Drohungen decke, die widersprüchlichen Aussagen im Prozess. „Das passt alles zusammen.“
Mit der Strafhöhe blieb Distler unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, die sogar siebeneinhalb Jahre Haft gefordert hatte. Verurteilt wird Alexander M. nun wegen Beleidigung, Bedrohung, versuchter Nötigung oder Volksverhetzung, dazu noch Widerstand gegen Beamte bei seiner Festnahme.
Für Alexander M. sind das bekannte Delikte. Mehrere Jahre saß er zuvor bereits wegen ähnlicher Vergehen in Haft. Auf die Schliche kamen ihm Ermittler diesmal über ein Schachportal: Dort hatte ein Nutzer ähnliche Formulierungen wie der „NSU 2.0“ benutzt, unverschlüsselt. Die IP-Adresse führte zu Alexander M. Im Prozess bestritt er auch dies. Auch die Drohschreiben habe er nur aus dem Darknet kopiert. Distler nimmt ihm das nicht ab. Vielmehr erklärt sie, er hätte lieber, seinen Drohschreiben folgend, als „standhafter deutscher Mann“ die Taten gestehen sollen. Das hätte den Opfern womöglich geholfen. „Aber diese Chance haben Sie nicht ergriffen.“
Im Saal sitzen auch zwei der Betroffenen der Drohserie, die Linken-Politikerinnen Janine Wissler und Martina Renner. Letztere hatte mit Başay-Yıldız als Nebenklägerinnen am Prozess teilgenommen. Im Prozess schilderten die Frauen, was die Drohschreiben mit ihnen machten. Sie habe viele Bedrohungen erhalten, erzählte Başay-Yıldız. Die vom „NSU 2.0“ seien anders gewesen. Das erste Schreiben erreichte sie am 2. August 2018, per Fax. „Verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst, du Schwein“, hieß es dort. Und dass man ihre damals zweijährige Tochter „schlachten“ werde. Da habe sie erstmals Anzeige gestellt.
Stockend berichtete Başay-Yıldız, was folgte, als die Drohungen immer weiter gingen, als nach ihrem Umzug auch ihre neue, geheime Adresse im Darknet auftauchte, mit dem Aufruf, sie zu töten. Sie sagte Mandate und öffentliche Termine ab, bekam Polizeischutz, ließ ihr Haus für 50.000 Euro absichern, schirmte ihre Tochter ab, auf dem Spielplatz, auf dem Weg zur Kita. Bis heute lasse sie diese „keine Sekunde“ aus den Augen.
Auch andere Bedrohte berichteten, wie sie die Drohungen verunsicherten, wie sie psychologische Hilfe suchten. Die ARD-Journalistin Anja Reschke schilderte, wie sie bereits 2015 von einem Unbekannten bedroht wurde. Ein Anruf ging damals bei der Polizei ein. Er wurde aufgezeichnet und im Gericht abgespielt: Es klang nach der Stimme von Alexander M. Als der ebenfalls betroffene Welt-Journalist Deniz Yücel den Angeklagten fragte, ob M. auch weitere, nicht angeklagte Schreiben verschickte, drohte dieser zurück, mit ihm würde er „ganz andere Sachen“ machen, wenn er könnte. Es klang verräterisch nach den Drohungen der Serie.
Ungeklärte Fragen
Nach dem Urteil stehen Wissler und Renner vor dem Gericht, auch Başay-Yıldız kommt dazu. Das Urteil sei ein wichtiges Signal, dass Hetze Folgen habe, sind sie sich einig. Auch für andere, weniger prominente Betroffene. Aber alle Drei machen klar, dass für sie ein Verdacht nicht ausgeräumt ist: Dass auch Polizisten an der Drohserie beteiligt waren.
Başay-Yıldız erinnert dafür noch einmal an die Datenabrufe auf den Polizeirevieren und das Auftauchen ihrer neuen, gesperrten Adresse. Vor allem aber erinnert sie an ihr erstes Drohfax vom 2. August 2018. Sechs Minuten lang wurde damals auf dem 1. Frankfurter Revier mit gleich 17 Abfragen auf drei Datenbanken nach ihr gesucht – nach ihrer Adresse, den dort gemeldeten Personen oder Vorstrafen. Ohne dienstlichen Grund. Anderthalb Stunden später erreichte die Anwältin das Drohfax. Başay-Yıldız glaubt, dass Polizisten gezielt etwas über sie herausfinden wollten – und ihre Daten womöglich danach ins Darknet stellten.
Başay-Yıldız forderte deshalb für das erste Drohschreiben einen Freispruch für Alexander M. und benannte einen anderen Verdächtigen: den Polizisten Johannes S., der zur Tatzeit im Revier war und Teil einer dortigen rechtsextremen Chatgruppe namens „Itiotentreff “. Der nach „Yildiz in Frankfurt“ googelte und Experte für Tor-Verschlüsselungen war. Und bei dem Chats gefunden wurden, in denen es hieß: „Ich reiß dir den Kopf ab und scheiß dir in den Hals“ – wie in den Drohschreiben.
Weitere Ermittlungen gefordert
Tatsächlich ermittelte auch die Staatsanwaltschaft gegen Johannes S., bis heute läuft ein Verfahren gegen ihn wegen Geheimnisverrats. Als er im Prozess als Zeuge geladen war, verweigerte er die Aussage. Im Prozess wies die Staatsanwaltschaft den Vorwurf indes zurück: Alle Schreiben gingen auf das Konto von Alexander M. Die Polizeidaten habe dieser sich über Anrufe erschlichen, in denen er sich als Behördenvertreter ausgab – wie er es auch schon in der Vergangenheit tat.
Richterin Distler räumt ein, dass das erste Drohfax dem Gericht „Kopfzerbrechen“ bereitet habe. Man gehe aber davon aus, dass Alexander M. auch dieses verschickte. Die Schreiben seien „aus einem Guss“, auch das erste passe dazu. „Sehr wahrscheinlich“ sei er über die fingierten Anrufe an die Polizeidaten gekommen. Aber: Das habe man nicht final klären können.
Schon direkt nach der Festnahme von Alexander M. hatte Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) die Polizei für entlastet erklärt. Die hessische Gewerkschaft der Polizei beklagte noch vor der Urteilsverkündung nochmal die „unsäglichen Vorwürfe“: Es gebe kein rechtes Netzwerk in der Polizei. Basay-Yildiz ist sich da nicht sicher. Auch nach dem Urteil blieben „zentrale Fragen“ offen. Sie wisse immer noch nicht, ob ihr auch aus der Polizei eine Gefahr drohe. „Deshalb muss weiter ermittelt werden.“
Auch Alexander M. hatte behauptet, dass Polizisten an der Darknetgruppe und den Drohschreiben beteiligt gewesen seien – Namen aber nannte er bis zum Schluss nicht. Das brächte ihm nur Nachteile, sagte der Angeklagte dazu. Und so blieb am Ende, neben dem Polizisten Johannes S., nur noch ein Verdächtiger: er selbst. Und der Befund, dass die „NSU 2.0“-Drohserie von der Yandex-Adresse nach seiner Festnahme ihr Ende fand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“
Russische Gaslieferungen
Gazprom dreht Österreich den Hahn zu
Neuwahlen
Beunruhigende Aussichten