Expertin warnt vor Notstand: „Die Kitas stehen vor einem Kollaps“

Wegen Personalmangel fehlen im kommenden Jahr Hunderttausende Kitaplätze, warnt Bildungsexpertin Anette Stein. Die Finanzierung der Kitas sei unzureichend.

Ein Kind wühlt in einer Kiste mit Bausteinen auf einem blauen Teppich

Vor allem in Ostdeutschland muss eine Fachkraft deutlich mehr Kinder betreuen als empfohlen Foto: Bernd Settnik/dpa

taz: Frau Stein, seit Jahren treiben Bund und Länder den Kita-Ausbau massiv voran. Dennoch fehlen laut Ihren Berechnungen im kommenden Jahr fast 400.000 Plätze. Wie kann das sein?

Anette Stein: Der zentrale Grund ist, dass parallel zum massiven Ausbau der Kitaplätze auch der Bedarf der Eltern immer weiter gestiegen ist. Man darf nicht vergessen, dass es in den westlichen Bundesländern lange unüblich war, Kinder unter drei Jahren in die Betreuung zu geben. Das hat sich jetzt in den vergangenen Jahren schon stark geändert. Dennoch sind die Betreuungsquoten in den ostdeutschen Bundesländern nach wie vor viel höher. Man kann aber davon ausgehen, dass sich die Bedarfe weiter angleichen werden. Das Problem ist: Wir haben einfach zu wenig Personal. Damit können wir den aktuellen Bedarf nicht decken, geschweige denn für eine kindgerechte Qualität in den Kitas sorgen. Fast zehn Jahre nach Inkrafttreten des Rechtsanspruchs ist das ein ernüchterndes Bild.

ist Expertin für frühkind­liche Bildung. Bei der Bertelsmann Stiftung leitet sie den Bereich Bildung und Next Generation.

Der Nationale Bildungsbericht hat kürzlich den Personalnotstand als drängendstes Problem in der frühkindlichen Bildung bezeichnet. Was müsste aus Ihrer Sicht jetzt passieren?

Den massiven Personalmangel können wir nur nach und nach schließen. Deswegen brauchen wir kurzfristige und mittelfristige Maßnahmen. Aktuell ist entscheidend, dass die Fachkräfte, die da sind, die Aussicht bekommen auf eine baldige Besserung der Gesamtsituation. Dazu braucht es eine klare Strategie. Zum Beispiel müsste bald gesetzlich verankert werden, wie Schritt für Schritt mehr Personal an die Kitas kommen soll. Auch bei der Ausbildung muss sich einiges verbessern. Es fehlen Berufsschullehrer:innen, um ausreichend Er­zie­he­r:in­nen auszubilden. Ein weiteres Problem: Momentan erhalten immer noch nicht alle angehenden Er­zie­he­r:in­nen eine Ausbildungsvergütung. Natürlich überlegt man sich das dann zweimal, wenn man in anderen Ausbildungen schon gut verdient, man selbst aber vier, fünf Jahre erst mal nichts verdienen soll. Eine Ausbildungsvergütung für alle ist überfällig.

Ausbilden ist das eine. Viele Fachkräfte bleiben aber gar nicht im System, weil die Belastungen hoch, die Bezahlung niedrig und die Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt sind.

Wir wissen aus vielen Erhebungen, dass der Beruf bei jungen Menschen eigentlich sehr attraktiv ist. In dem Moment, wo sie aber dann lesen oder hören, wie die Rahmenbedingungen sind, sind viele so abgeschreckt, dass sie gar nicht erst anfangen wollen. Von denen, die es trotzdem wagen, sind viele schnell frustriert. Weil die Rahmenbedingungen sie daran hindern, pädagogisch gut zu arbeiten, und der Job zudem eine große gesundheitliche und psychische Belastung mit sich bringt. Deshalb ist es sehr wichtig, schnell die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Neben Entwicklungsperspektiven und einer besseren Bezahlung ist das vor allem ein besserer Personalschlüssel. Der ist nicht nur für die Kinder gut, sondern eben auch für die Fachkräfte. Aktuell stehen die Kitas aber vor einem Kollaps. Das Aufgabenspektrum ist zu groß für die Personalnot. Deshalb wäre jetzt dringend notwendig, auf manche Aufgaben zeitweise zu verzichten.

In Ihrer Studie schlagen Sie vor, die Dokumentation von Bildungsprozessen oder die Durchführung von Tests an den Kitas einzuschränken. Nach den alarmierenden Leistungen bei Grund­schü­le­r:in­nen fordern die Bil­dungs­mi­nis­te­r:in­nen aktuell genau das Gegenteil. Mit mehr verbindlichen Lernstandserhebungen und gezielter Förderung wollen sie die hohe soziale Ungleichheit schon in der Kita angehen.

Fehlende PlätzeBundesweit fehlen im kommenden Jahr fast 384.000 Kita­plätze, warnt die Bertelsmann Stiftung in ihrem Ländermonitoring zu frühkindlicher Bildung, das in der vergangenen Woche veröffentlicht wurde. Große Unterschiede bestehen demnach zwischen Ost- und Westdeutschland: Im Westen gebe es 362.400 Plätze zu wenig, im Osten 21.200.Fehlende FachkräfteUm ausreichend Kitaplätze zu schaffen, brauche es allein in Westdeutschland fast 100.000 weitere Fachkräfte und im Osten rund 5.000, so die Autor:innen. Das wären insgesamt zusätz­liche Personalkosten von 4,3 Milliarden Euro pro Jahr sowie etwa mögliche Ausgaben für den Bau von Kitas.Hohe PersonalschlüsselLaut der Studie werden mehr als zwei Drittel aller Kitakinder in Gruppen betreut, deren Per­so­nal­schlüssel nicht den wissenschaftlichen Empfehlungen entsprächen. Um das zu ändern, müssten sogar über 300.000 Fachkräfte eingestellt werden. Das entspräche Personalkosten von rund 13,8 Milliarden Euro jährlich. (taz)

Es ist natürlich sinnvoll, die Kompetenzentwicklung sowie die Förderbedarfe von Kindern auch in der Kita zu erheben. Die Länder haben hier auch bereits verbindliche Vorgaben geschaffen. Das Problem ist nur, dass in der Praxis dafür keine Zeit ist. Die Fachkräfte können diese Aufgaben in der jetzigen Situation jedenfalls nicht leisten und erst recht keine zusätzlichen. Viele Kitas sind in einer Notsituation, schränken schon jetzt ihre Öffnungszeiten ein. Wenn sie ganz zumachen müssen, hat ein Kind, das vielleicht dringend eine Förderung bräuchte, auch nichts davon. Aktuell müssen wir die Fachkräfte entlasten, um den Kollaps zu vermeiden. Die pädagogischen Aufgaben sollten jetzt im Fokus stehen.

Vor allem in den ostdeutschen Bundesländern muss eine Fachkraft im Schnitt deutlich mehr Kinder betreuen, als Ex­per­t:in­nen empfehlen. Was bedeutet das für die Qualität der frühkindlichen Bildung?

Die Situation ist sehr unterschiedlich in den Bundesländern. In Sachsen beispielsweise ist der Personalschlüssel in 93 Prozent der Kitagruppen nicht kindgerecht. In Baden-Württemberg, das seit Jahren unter den Ländern die beste Betreuungssituation an Kitas hat, sind es immerhin nur 45 Prozent. Trotzdem kann die Bildungsarbeit in vielen Kitas nicht in dem Maße stattfinden, wie es sinnvoll wäre. Wenn ein:e Er­zie­he­r:in in einem der östlichen Bundesländer sieben statt vier Krippenkinder betreuen muss, dann kann sie gegebenenfalls noch die Betreuung gewährleisten, sicher aber keine gute Bildungsarbeit machen. Das ist schlichtweg nicht möglich. Da kann die Ausbildung noch so gut sein.

Können Sie ein Beispiel geben?

Nehmen wir die Sprachbildung. Sprache lernt man durch Sprechen und das lernt man in der Interaktion. Und wenn ich doppelt so viele Kinder habe, dann gibt es einfach weniger Sprachanlässe. Dann kann ich weniger mit dem einzelnen Kind gezielt in einen Dialog treten. Das Gleiche gilt für soziale, emotionale Entwicklungen. Das heißt: Die Rahmenbedingungen für die Fachkräfte in den östlichen Bundesländern sind damit unendlich viel schwieriger, um eine gute Bildungsarbeit zu leisten. Es ist klar, dass in so einer Betreuungssituation gezielte Sprachförderung im Zweifel unter den Tisch fällt.

Die Länder klagen aktuell, dass der Bund das bewährte Programm zur Sprachförderung, „Sprachkitas“, im kommenden Jahr auslaufen lässt. Wie sehen Sie die Entscheidung?

Grundsätzlich halte ich die Idee für richtig, ein so zentrales Thema wie Sprachförderung nicht nur bei einem Teil der Kitas, sondern bei allen Kitas im Land zu stärken. Auch aus dieser Überlegung heraus kann ich sogar nachvollziehen, dass man auch ein so erfolgreiches Programm wie die Sprachkitas irgendwann auslaufen lässt. Allerdings muss in dem Fall gewährleistet sein, dass jede Kita in der Lage ist, eine gute alltagsintegrierte Sprachförderung zu machen. Das ist aber nicht der Fall. Zweitens sehe ich kritisch, dass das Ende des Programms sehr kurzfristig mitgeteilt wurde. Das hat in den Kitas zu unnötigen Sorgen geführt.

Der Plan von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) sieht vor, dass Sprachkitas über das neue „KiTa-Qualitätsgesetz“ weitergefördert werden können. Insgesamt 4 Milliarden Euro will der Bund den Ländern darüber in den nächsten zwei Jahren überweisen. Reicht das?

Ob jetzt der Bund hierfür mehr Geld geben sollte oder die Länder oder die Kommunen, muss die Politik unter sich ausmachen. Fakt ist, dass die Finanzierung nicht reicht, um Kitas kindgerecht auszustatten. Da sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache. Nach unserer Berechnung würde das im Jahr 14 Milliarden Euro kosten. Allein um die Finanzierung aller Kitaplätze im Land sicherzustellen, wären 4,3 Milliarden nötig. Man sieht also, wie weit man mit den 2 Milliarden jährlich vom Bund kommt. Ich fände aber wichtig, dass der Bund dauerhaft in Bildung investiert. Die zeitlich begrenzten Programme führen bei den Ländern, Kommunen und Kitas immer wieder zu großer Unsicherheit.

Der Bund hat mittlerweile auch einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen beschlossen. Glauben Sie, dass es besser klappt als mit den Kitas?

Nein. Ehrlich gesagt halte ich die Umsetzung des Rechtsanspruchs bis 2026 für völlig unrealistisch. Dafür sind die Voraussetzungen nicht gegeben. Dennoch halte ich den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung inhaltlich für äußerst sinnvoll. Wir brauchen das Konzept Ganztagsschule, auch um benachteiligte Kinder entsprechend zu fördern. Das Konzept lebt ja davon, dass es einen ganzheitlichen Zugang zu Bildung schafft und Lehrkräfte mit Sozialpädagog:innen, Psy­cho­lo­g:in­nen und So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen kombiniert. Eines muss der Politik aber bewusst sein: Wenn ich nicht die Fachkräfte habe, kann es nicht funktionieren.

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