Debütroman von Kim de l'Horizon: Queerung des Erzählens
Kim de l'Horizon will in seinem radikalen Debüt „Blutbuch“ den Normfamilienroman hinter sich lassen. Dafür wurde l'Horizon mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Der Einsatz ist hoch in diesem streckenweise wie brennend geschriebenen Roman.
Im vierten seiner fünf Teile gibt es in Schreibmaschinenschrift gesetzte Abschnitte. Sie stammen, so sagt es die Romanerzählung, von der Mutter der Erzählfigur (die sich nonbinär definiert und deshalb hier weder der Erzähler noch die Erzählerin genannt werden soll). Und zwar hat die Mutter ihren weiblichen Vorfahren, die bis dahin im Familienstammbaum eher ausgelassen wurden, hinterherrecherchiert, zurück bis ins 14. Jahrhundert. Als nun wiederum ihre Mutter dement wird und schubweise ihre Erinnerung verliert, bittet sie die Erzählfigur, den Lebenslauf der Großmutter zu schreiben. Das verweigert die Erzählfigur, stößt dann aber auf das Konvolut mit den mütterlichen Recherchen.
Als Leser*in liest man mit. Eine der Urahninnen, Ira Marinero, geboren 1598, Todesjahr unklar, wird im Konvolut von einer Elvira gefragt, ob sie schreiben könne. Ira bejaht. Elvira sagt: „Wenn ich schreiben könnte, würde ich mein Leben aufschreiben.“ Worauf diese Ira, die als Heilerin in einem Bordell arbeitet, sich denkt: „Ich kann zwar schreiben, aber habe kein Leben, das ich aufschreiben möchte. […] Was ist das Schreiben an mich verschwendet!“
Sein Leben aufschreiben, überhaupt erst einmal ein Leben führen und sich erstreiten, das man gerne beschreiben möchte – damit ist eins der Motive benannt, die Kim de l’Horizons Debütroman „Blutbuch“ durchziehen. Das zweite Hauptmotiv: „Blutbuch“ ist auch ein Familienroman, wenn auch einer, der sowohl Normfamilien als auch das normierte Schreiben über sie hinter sich lassen will.
Kim de l'Horizon: „Blutbuch“. Dumont Verlag, Köln 2022, 336 Seiten, 24 Euro
Und es gibt ein drittes Motiv: Schreiben bedeutet bei alledem keineswegs neutrales Beschreiben. Es wird hier inszeniert als ein Akt, eine Setzung, auch eine Identitätsstiftung. Und so fluide diese erschriebene Identität dann im Text behauptet wird – man kann in seinen besten Passagen auch sehen, was an schwerem Gepäck von Schuldgefühlen und Unsicherheiten, übernommenen Prägungen und Ängsten dabei immer mitschwingt.
Wellen und Wogen
An einer Stelle heißt es, dass „das Schreiben eine einzige Wellenlinie ist, eine von weither kommende Woge, die lange vor mir begonnen hat und noch lange nach mir weiterfliessen wird“. Nicht nur wegen der Bildlichkeit von Wellen und Wogen ist dieser Satz interessant, sondern auch, weil deutlich wird, dass das Erschreiben eines eigenen Lebens hier immer auch als ein Einschreiben in Traditionen gedacht ist. Und was die Rechtschreibung betrifft: Wir sind in der Schweiz, das Schweizer Doppel-s wird im Text beibehalten.
Es ist vielleicht ganz gut, eine Besprechung dieses Romans mit diesem seinem ernsten Schreibeinsatz zu eröffnen. Man könnte auch ganz anders beginnen. Man könnte sich zu diesem Roman über „brennend“ hinaus viele weitere Adjektive überlegen. Streckenweise ist er wirklich ein wilder Bewusstseinsritt, dann wieder ein sanftes Erinnern an die Kindheit, es gibt hochreflektierte Abschnitte, aber auch rauschhafte Erzählmomente.
Man könnte es auch ein bisschen lustig finden, dass nun, da das Buch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht und es damit offiziell nicht mehr (nur) unter „queer“, sondern auch unter „Literatur“ läuft, bundesweit die Hochliteraturspezialisten und Buchhändler über die expliziten Analsexszenen sich beugen werden, die der Roman Sex-positivity-mäßig enthält.
Ins Förmchen goethen
Oder man kann dem hinterhersinnen, wie das Buch den Familienroman dekonstruiert, aber auch wiederherstellt. „Wie sehen Texte aus, wenn nicht ein menschliches Mustersubjekt im Zentrum steht und die Welt begnadet ins Förmchen goethet?“, fragt sich die Erzählfigur. Ins Förmchen goethen, schöne Wendung übrigens, das will der Text selbstverständlich nicht, also bricht er die Erzählformen auf.
„Dass es zu simpel ist, die zerstückelte Welt in zerstückelten Texten darzustellen“, weiß die Erzählfigur aber auch. Und so springt der Roman hin und her, springt auch immer wieder auf die Metaebene (inklusive Eribon-, Ernaux-, Derrida-Einschüben), springt zwischendurch in die Schreibsituation und fängt wie in einem Mosaik dann eben doch das Leben der Erzählfigur, ihrer Mutter und Großmutter ein.
In seinem Bekenntnisdrang nervt der Roman streckenweise auch. Was an ihm offenes Herz ist und was aufgeschminkte divenhafte Maske, ist nicht immer zu entscheiden. Doch der Roman kriegt einen immer wieder. Es gibt schöne Sätze, etwa wenn die Erzählfigur mit der Großmutter allein ist und schreibt: „meine Hände sind barfuss in deinen Händen“, und auch effektiv eingesetzte literarische Momente, etwa wenn erst seitenlang aufregender Sex mit einem Farid beschworen wird und dieser Farid dann knapp sagt: „Aber ich heisse doch Thilo.“ Eine schöne Illustrierung eines Satzes, der an anderer Stelle fällt: „Mein Begehren geht mich spazieren.“
Patriarchale Geschlechterbilder
Der zugleich anstrengendste wie beeindruckendste Abschnitt ist der dritte Teil. In einem teilweise atemlosen und mit aktuell angesagtem Jargon durchsetzten Erzählstrom dreht er sich um die Blutbuche, die der Urgroßvater Anfang des 20. Jahrhunderts für seine Tochter pflanzte und wie dabei nationalistische Vorstellungen, Familiengeheimnisse und patriarchale Geschlechterbilder eine Rolle spielen.
Sein Leben beschreiben, sich dabei teils von der Herkunft abgrenzen, teils in sie einordnen, das ist zurzeit ein großes Thema in der Literatur. Andreas Schäfer, Martin Kordić, Daniela Dröscher, Jan Faktor tun das aktuell auch, jeweils auf ihre Weise, die Liste ließe sich verlängern. Kim de l’Horizons „Blutbuch“ ist in dieser Reihe literarisch der sicherlich radikalste Roman, doch existenzielle Dringlichkeit behaupten auch die anderen Autor*innen.
Was passiert hier? Was man womöglich sehen muss, ist, dass sich sein Leben zu erzählen ein Bewältigungsmechanismus ist, ein Akt der Orientierung und Selbstvergewisserung, und dass das Bedürfnis danach offensichtlich groß ist, und zwar durch die Bank, von den sogenannten Subkulturen bis hin zum Mainstream.
Brief an die Großmutter
Es ist aber auch interessant, das „Blutbuch“ in literarische Traditionslinien einzuordnen. Thomas Manns „Tonio Kröger“ – „Warum bin ich doch so sonderlich und im Widerstreit mit allem, zerfallen mit den Lehrern und fremd unter den anderen Jungen“ – kann einem einfallen. Künstler zu werden ist im „Tonio Kröger“ die einzige anerkannte Möglichkeit, eine „andere“ Identität zu leben.
Fritz Zorns Abrechnung mit seinen bürgerlichen Eltern, „Mars“ – „Ich bin jung und reich und gebildet, und ich bin unglücklich, neurotisch und allein“ –, blinkt auch in den Referenzen. Selbstverwirklichung ist in diesem Siebziger-Jahre-Klassiker nur als Selbstzerstörung denkbar.
Wenigstens angedeutet wird das „Blutbuch“ dagegen spätestens im fünften Abschnitt auch ein Roman über Freundschaften. Und insgesamt ist es auch ein langer Brief an die Großmutter. Befreiung ist ein so großes Wort. Aber dass unsere Gesellschaft dabei ist, wenigstens die strikte Aufteilung von „normal“ und „anders“ wegzuarbeiten, das kann man von Mann zu l’Horizon vielleicht sehen, mit dem Effekt, dass dann eben alle über ihre Identität nachdenken müssen.
Allerdings vielleicht dann doch nicht so tiefgreifend wie Kim de l’Horizon.
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