Neues Vaterbuch von Andreas Schäfer: Mal wattig, mal stacheldrahtig

Schriftsteller Andreas Schäfer erinnert sich an seinen verstorbenen Vater. Dabei will „Die Schuhe meines Vaters“ kein Familienroman sein. Gelingt das?

Mann wird von einem Kleinkind im Kinderstuhl mit einem Schokohasen gefüttert

Familienverhältnisse sind Zeitmaschinen: Vater und Kleinkind in den 70ern Foto: Jocelyn Michel/getty images

Die letzte Begegnung zwischen dem zu dieser Zeit 81-jährigen Robert Schäfer und seinem Sohn Andreas Schäfer findet im Sommer 2018 statt, das ist ein paar Tage vor der Operation, aus der Robert Schäfer nicht mehr erwachen wird. Ein Krebs ist zurückgekommen. Eine Biopsie im Gehirn ist nötig geworden. Vor dem Eingriff fährt Robert Schäfer von Frankfurt aus, wo er wohnt, noch einmal auf ein paar Tage nach Berlin, wo er geboren wurde. Er fährt, um in die Oper zu gehen und um mit seinem Sohn und dessen Tochter, seiner Enkelin, Zeit zu verbringen. Trotz der medizinischen Sorgen werden es ganz entspannte Tage.

Zurück in Frankfurt, kommt es während der Narkose zu einer fatalen Blutung im Stammhirn, die die Ärzte erst übersehen und gegen die sie dann nichts mehr machen können. Von da an müssen Andreas Schäfer und seine inzwischen von ihrem Mann getrennt lebende Mutter darüber nachdenken, wann sie die Maschinen abstellen, die den im künstlichen Koma liegenden Vater am Leben erhalten. (Es gibt noch einen zweiten Sohn, doch der hält sich, mit psychischen Problemen belastet, in dieser Frage raus.)

Andreas Schäfer beschreibt in seinem neuen Buch „Die Schuhe meines Vaters“ seine Beziehung zu seinem Vater also vom Ende her. Das bestimmt die Perspektive. Trauerarbeit, Ge­fühls­ana­ly­sen, nachgetragene Anerkennung, Sinnstiftungsfragen folgen. Das Leben des Vaters, das eigene Leben als Sohn bis dahin und das Verhältnis zwischen beiden wird von innen heraus und zugleich mit reflektierendem Abstand hin und her gewendet.

Während der letzten Begegnung lässt Andreas Schäfer, auch schon 50 Jahre alt und ein bekannter Romanautor („Wir vier“, „Das Gartenzimmer“), eher aus einer Laune heraus mal ein Aufnahmegerät laufen. „Was ich schon lange wissen wollte“, so will der Sohn das Gespräch beginnen. Doch der Vater unterbricht sofort: „Das Geheimnis!“

Der Sohn ist verblüfft: „Gibt es denn eins?“

Doch es gibt gar keins.

Es ist nur ein Witz des Vaters, und zwar ein ziemlich guter, verweist er doch darauf, mit welchen Dramaturgien sonst oft über Familiendinge gesprochen und geschrieben wird: mit Familiengeheimnissen, mühsam umschifften touchy points, die irgendwann aufbrechen, und einzelnen gärenden Ereignissen in der Vergangenheit, die noch die Gegenwart belasten.

Schwockwellen aus dem Krieg

Bei den Schäfers aber liegt alles auf dem Tisch, auch das Schwierige. „Mein Vater sprach viel und gern über sich, immer schon“, heißt es einmal, gleich darauf kommt allerdings eine Einschränkung, „doch manchmal erschien mir sein Reden wie das Pfeifen im Walde.“

Andreas Schäfer: „Die Schuhe meines Vaters“. Dumont, Köln 2022. 192 ­Seiten, 22 Euro

Im Zweiten Weltkrieg wurde das Elternhaus des Vaters in Berlin ausgebombt, der siebenjährige Robert Schäfer sah es, shell-shocked aus dem Bunker wankend, brennen; eine traumatische Erfahrung, von der aus der Sohn „Schockwellen bis in meine Biografie hinein zu spüren“ meint. Und es gibt noch eine zweite „Wunde“: Als der Vater seine Braut, eine nach Hamburg gezogene Griechin, seinen Eltern vorstellt, wird er, wir sind hier in der Mitte der sechziger Jahre, kurzerhand enterbt. Eine Ausländerin als Schwiegertochter ist nicht willkommen.

Auch das zeitigt Spuren bis in die Biografie des Sohns hinein. Familienverhältnisse sind manchmal Zeitmaschinen. In ihnen erlebt man gesellschaftliche Konstellationen und zwischenmenschliche Praktiken, die man eigentlich für überwunden hält, in ihren Auswirkungen teilweise noch als gegenwärtig. Das Leben des Vaters reicht zurück bis zu jener emotionalen Härte, für die Helmut Lethen den Begriff „Kältelehren“ geprägt hat.

Familien und Tabus

Auch um die vielen Streitereien in der Ehe, die schließlich zur Trennung des Paars führen werden (bevor es sich im Alter wieder miteinander eher kameradschaftlich befreundet), macht Andreas Schäfer kein Geheimnis. Die Zeiten, in denen Familiendinge mit einem Tabu belegt waren – darüber spricht man doch nicht öffentlich! – sind ja auch vorbei.

Bücher, die von Vätern erzählen, haben zuletzt einen ziemlich soliden Trend ausgemacht. Das Interessante an solchen Büchern wie „Der vergessliche Riese“ von David Wagner, „Vater und ich“ von Dilek Güngör, „Glücksritter“ von Michael Kleeberg, „Alles, was wir nicht erinnern“ von Christiane Hoffmann oder, etwas komplizierter, da indirekter, „Mitgift“ von Henning Ahrens ist, dass hier Väter in ihrer jeweiligen individuellen Statur umrissen werden.

Der Vater als Patriarch, als Täter und als Stellvertreter der gesellschaftlichen Ordnung, das gibt es auch alles noch. Doch daneben ist es inzwischen offenbar möglich und interessant geworden, Väter nicht als Instanzen, sondern als Personen zu beschreiben. Wobei es dabei teilweise seltsame und traurige Geschichten zu erzählen gibt, von unterdrückten Traumatisierungen bis hin zu den Unsicherheiten innerhalb der bundesdeutschen Nachkriegs- und Aufstiegsgesellschaft.

Direkt und unverstellt

Andreas Schäfer wendet sich in „Die Schuhe meines Vaters“ nun ganz direkt und unverstellt seiner Beziehung zu seinem Vater zu. Während man sein Buch liest, gewinnt man den Eindruck, dass es gar keiner äußeren Dramen bedürfte, um eine Vater-Sohn-Beziehung mit Ambivalenzen aufzuladen, vielmehr ist so eine Beziehung von sich aus dramatisch. Fragen der Anerkennung spielen ebenso hinein wie Schamgefühle. Andreas Schäfer schreibt an einer Stelle von einem „mal wattigen, mal stacheldrahtigen Verhältnis zu ihm“.

Im ersten Teil des Buchs geht es darum, die Erschütterungen nach der Nachricht von der verunglückten Biopsie bis zum tatsächlichen Tod des Vaters nachzuzeichnen. Es gäbe für Andreas Schäfer einigen Anlass zur Empörung, über die Unfairness des Schicksals etwa oder auch, ganz konkret, über mögliche Behandlungsfehler der Ärzte. Doch das ist nicht das treibende Motiv in diesem Abschnitt. Es liegt eher in der Verarbeitung des Verlustes und der Frage, inwieweit er mit Sinn – das ist eben der Lauf des Lebens! – aufgeladen werden kann.

Auch dies Motiv reflektiert Andreas Schäfer anhand der letzten Begegnung. Er tastet sie darauf ab, ob sich in ihr nicht etwas gerundet hat, ob sich nicht eine „Lebensabschlussstimmigkeit“ gezeigt hat. Und zugleich ist da aber die Frage, ob er genau damit nicht literarischen Konventionen aufsitzt. Die Vorstellung, dass ein Leben oder eine Beziehung sich final runden könnte, ist eben eine literarische Idee (während das Leben selbst einfach immer weitergeht, bis es irgendwann endet).

Rundet sich ein Leben?

An einer Stelle denkt Andreas Schäfer über seine Notizen nach: „Dies ist kein Roman, auch wenn das, was im Entstehen begriffen ist, zwangsläufig romanhafte Züge aufweist. Ich spüre schon die Muster und Bögen entstehen, Motive, Schlüsselmomente, Ankersätze.“ Zwischen dem Bedürfnis nach Trost durch Lebensrundungsgedanken einerseits und andererseits dem Versuch, das Individuelle zu retten und dem vorschnellen Familienromanhaften zu entkommen, liegt das Flirrende dieses Abschnitts.

Im zweiten Teil gibt Andreas Schäfer, sich dabei aber auch immer wieder selbst ins Wort fallend, dann aber doch Skizzen eines Familienromans. Er beschreibt die schwierige Jugend des Vaters, die deutsch-griechische Ehe, in der der Vater nie richtig Griechisch gelernt hat, dann auch die eigene Jugend des Sohns schließlich im Reihenendhaus in Frankfurt. Das alles bleibt so spezifisch, dass man sich beim Lesen keineswegs mit dem Erzähler identifiziert. Man liest es eher wie Beiträge zu einem guten Gespräch, hält seine eigenen Erfahrungen dagegen, stellt Unterschiede und Gemeinsamkeiten fest.

Es gibt noch einen kurzen dritten Teil, in ihm erweisen sich Familienverhältnisse noch in einem anderen Sinn als mögliche Zeitmaschinen: Ihnen nachfühlend, kann man aus den Zeitumständen selbst heraustreten und sich den großen Fragen von „Was bleibt?“ und „Wer bin ich?“ stellen. Andreas Schäfer tut das, indem er sich auf die Spuren des Vaters begibt. Dessen letztes Großprojekt war es, alle 113 bewohnten griechischen Inseln zu bereisen. Eine dabei unternommene Wanderung wiederholt der Sohn nun, er besteigt den Berg Zas auf Naxos, so wie sein Vater es getan hat. Und es ist wirklich sehr schön, wie Andreas Schäfer am Schluss seines Buchs die ganze Profanität, aber auch Spiritualität so eines Unternehmens einfängt.

Was bleibt? Von Robert Schäfer ist es unter anderem ein massiver Locher, den die Enkelin aus allen Hinterlassenschaften sich heraussucht und auf ihren Schülerinnenschreibtisch stellt. Und es ist die Freude am Wandern, die der Sohn in sich wiederentdeckt. „Eine lange vergessene Freude stieg in mir auf, ein pulsierendes Kindheitsglück, das allein daher rührte, an seiner Seite zu sein.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.