„Als Einstieg super Lösung“

Wie sieht eine Stadt aus, die vom Fahrrad her gedacht ist? Fahrrad-Professorin Martina Lohmeier über Pop-up-Radwege, gendergerechte Verkehrsplanung und ihre Bewunderung für Kopenhagen

Wie sieht eine Stadt aus, die nicht vom Auto her gedacht ist? Foto: Thomas Coex/afp

Interview Michael Schlegel

taz: Frau Lohmeier, seit anderthalb Jahren haben Sie eine Professur für Mobilitätsmanagement und Radverkehr inne. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie in der Zeit gewonnen haben?

Martina Lohmeier: Dass wir schon einiges wissen, vieles aber noch unerforscht ist. In der Infrastrukturplanung, meinem Schwerpunkt, ist man immer davon ausgegangen, dass In­ge­nieu­r:in­nen schon wissen, wie man eine Straße, einen Radweg, einen Fußweg oder eine Brücke plant und baut. Aber da spielen viele verschiedene Wissenschaften eine Rolle, von der Verhaltensforschung über die Sicherheitsforschung zur Baustofftechnologie. Auch große gesellschaftliche Themen wie Flächengerechtigkeit müssen mehr erforscht und diskutiert werden.

Woran forschen Sie derzeit?

Wir haben drei Themenschwerpunkte. Erstens gendergerechtes Planen. Es ist zum Beispiel so, dass unter Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren mehr Jungs als Mädchen mit dem Fahrrad fahren. Wir fragen uns, warum das so ist. Liegt es daran, dass geschlechterspezifische Rollenmuster im Hinblick auf die Mobilität schon in der Kindheit vorhanden sind? Oder daran, dass Mädchen weniger sportlich aktiv sind als Jungen? Oder ist es eine Folge davon, dass in der angewandten Stadt- und Verkehrsplanung mögliche Bedürfnisse und Ansprüche der Gruppe von jugendlichen Mädchen bislang (nahezu) nicht beachtet werden? Diesen Fragen wollen wir nachgehen und haben dazu bereits ein Projekt erfolgreich durchgeführt und starten jetzt das Folgeprojekt.

Und die anderen Schwerpunkte?

Unser zweiter Schwerpunkt ist die Zustandserfassung und -bewertung von Radverkehrsinfrastruktur-Anlagen. Wie und wann muss man zum Beispiel handeln, wenn eine Wurzel durch den Radweg bricht? Wie kann man so planen, dass man die finanziellen Mittel passgenau zur Verfügung hat, um immer eine gute und komfortable Infrastruktur zur Verfügung stellen zu können? Wir fragen uns zudem, wie der Zustand unserer Bestands-Radverkehrsinfrastruktur zu bewerten ist und welche Handlungsempfehlungen sich daraus ableiten lassen.

Und drittens?

Drittens beschäftigen wir uns mit dem Verkehrsaufkommen und seiner Wirkung auf Mensch und Natur. Konkret wollen wir uns dabei den Themen Emissionen und Immissionen, wie zum Beispiel Feinstaub und Lärm, und ihren Wechselwirkungen widmen. Dafür haben wir ein Mobilitätslabor aufgebaut und mit entsprechender Erfassungstechnik ausgestattet, damit wir unsere Fragestellung auch untersuchen und mit Daten belegen können.

Ist das restliche Studium auch so praxisnah wie das Mobilitätslabor?

In meinem Kernthema, Entwerfen von Infrastrukturanlagen, kann man schon im Bachelorstudium anfangen, mit den Studierenden kritisch ins Gespräch zu gehen. Ich schaue mir mit ihnen zum Beispiel eine öffentliche Straße mit einer bestimmten Breite von Hauswand zu Hauswand an. Und dann frage ich: Wie teilen wir den Straßenraum jetzt im Hinblick auf die verschiedenen Verkehrsteilnehmenden vernünftig auf? Dazu gehören Pkw, Lkw, Bus, Bahn, zu Fuß Gehende und Radfahrende. An diesem Beispiel kann man direkt diskutieren, was es für den Straßenraum bedeuten würde, Fahrstreifen für die Autos zu reduzieren. Was würde dies für den Radverkehr und was für den Fußverkehr bedeuten? Welchen Einfluss hätte diese Entscheidung auf das städtische Klima, wenn man plötzlich Platz für Bäume hätte und vieles mehr? Im Masterstudiengang können wir das unterfüttern, indem wir sehr praxisrelevante Themen im Detail bearbeiten. Dafür werden wir zum Beispiel von einer Stadt gefragt, ob wir einen Verkehrsversuch begleiten möchten.

Foto: privat

Martina Lohmeier

ist Professorin für Mobilitätsmanagement und Radverkehr an der Hochschule RheinMain. Sie hat eine von sieben Stiftungs­professuren im Bereich Radverkehr inne, die der damalige Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) 2020 vergab.

Ab Oktober wird es an Ihrer Hochschule den neuen Master­studiengang Nachhaltige Mobilität geben. Wieso trägt er nicht auch Radverkehr im Titel?

Es handelt sich um einen Kooperationsstudiengang. Eine Kooperationspartnerin ist die Frankfurt University of Applied Sciences, wo eine der anderen Stiftungsprofessuren, nämlich die von Professor Knese, angesiedelt ist. Wir beide bilden zusammen im Wahlpflichtbereich den Schwerpunkt Radverkehr aus. Man kann vier Wahlpflichtfächer nur zum Thema Radverkehr wählen. Herr Knese lehrt Radlogistik und Intermodale Verknüpfung und ich Entwurf und Radverkehrsmanagement. Unsere Kolleg:innen, die ebenfalls im Master lehren, sind interdisziplinär aufgestellt. Sie lehren zum Beispiel Mobilitätsmanagement, Verkehrsnachfragemodelle, Einflussfaktoren des Mobilitätsverhaltens, Verkehrspolitik und vieles mehr. Die beiden anderen Partner der Hochschule Darmstadt und der Technischen Hochschule Mittelhessen machen das Studium rund, indem sie unter anderem ihre Kompetenz im Hinblick auf ÖPNV-Infrastruktur und den schienengebundenen Verkehr einbringen. So können wir den Umweltverbund als Ganzes betrachten.

Die Ampelregierung hat versprochen, den Radverkehr bis 2030 besser und sicherer zu machen. Wie bewerten Sie den Nationalen Radverkehrsplan?

Der Nationale Radverkehrsplan 3.0 ist nicht nur mit Fachmenschen und Politikern entwickelt worden, sondern auch mithilfe einer breiten Befragung der Bürger und Bürgerinnen. Es wurden die wichtigsten Leitziele beschrieben und die Projekt­ideen sind in der Regel an umsetzbare (Teil-)Projekte wie den Bau einer Radverkehrsanlage etc. gekoppelt. Genau das brauchen wir. Wir müssen mehr in die Fläche kommen und wir müssen auch Ideen ausprobieren können, die vielleicht nicht sofort das Nonplusultra sind. Der Nationale Radverkehrsplan 3.0 ist gut dafür geeignet, Erkenntnisse aus den Projekten raus auf die Straße zu bringen.

Andere Länder sind schon deutlich weiter. In Kopenhagen wurden scon vor ein paar Jahren 44 Prozent aller Strecken zur Arbeit oder Ausbildung mit dem Fahrrad zurückgelegt.

Es steht ganz oben auf meiner Liste, dass ich demnächst mal mit meinen Studierenden nach Kopenhagen fahre. Die Stadt ist einfach vom Fahrrad her gedacht. Radfahrenden werden die erforderlichen Flächen konsequent zur Verfügung gestellt. Es gibt dort so einfache Dinge wie zum Beispiel Trittbretter an der Ampel, auf denen man sich mit dem Fuß abstützen kann und deshalb gar nicht absteigen muss. Und es gibt überall die Möglichkeit, das Fahrrad vernünftig und sicher abzustellen. Man hat Vorrang, wenn man mit dem Fahrrad unterwegs ist, indem die Ampelschaltung entsprechend angepasst wurde. So ist man auch wirklich schneller als mit dem Auto unterwegs. Man muss nicht überlegen: Welche Strecke fahre ich denn jetzt, damit es besonders sicher für mich ist?

In Deutschland musste erst eine Pandemie kommen, damit Städte wie Berlin Pop-up-Radwege schaffen. Welchen Beitrag können solche improvisierten Lösungen machen?

Auf dem Dorf ist es oft schwierig, den Menschen zu sagen, dass sie mit dem Rad zum Bäcker sollen

Das war als Einstieg eine super Lösung, und bereits vorhandene Konzepte wurden in dieser Zeit clever genutzt beziehungsweise umgesetzt. Denn die Coronapandemie hat dazu geführt, dass ganz viele Menschen das Bedürfnis hatten, entweder mit dem Auto zu fahren oder aber vermehrt auch zu Fuß und mit dem Rad unterwegs zu sein. Mutige Menschen haben diesen Moment genutzt und Verkehrsversuche gestartet, um die Situation zu beobachten und zu evaluieren. Ich gehe davon aus, dass man die Pop-up-Radwege noch weiter ausbauen wird, und das ist eine wichtige Möglichkeit, den Radverkehr zu stärken.

Auf dem Land wird das Rad noch seltener genutzt als in der Stadt. Wie kann man dazu beitragen, auch auf dem Land das Fahrradfahren attraktiver zu gestalten?

Das ist ein Thema, von dem ich hoffe, dass sich daraus bei uns noch ein vierter Forschungsschwerpunkt ergibt. Radverkehr im ländlichen Raum kann man nicht verallgemeinern. Bei uns im Darmstädter oder im Frankfurter Umland beispielsweise gibt es viele Pendler, die wirklich mit ihren Rädern und/oder Pedelecs unterwegs sind und auch längere Strecken von zehn Kilometern oder mehr zurücklegen. Jugendliche steigen im ländlichen Raum oft aufs Fahrrad um, weil sie damit flexibler sind und die Busverbindungen oftmals schlecht sind. In anderen ländlichen Regionen sieht es aber wieder ganz anders aus. In dörflich geprägten Gegenden ist es oft schwierig, den Menschen zu sagen, dass sie morgens doch besser mit dem Fahrrad zum Bäcker fahren sollen. Möglicherweise gibt es dort gar keinen Radweg, möglicherweise ist der Bäcker aber eben nicht um die Ecke, sondern erst im nächsten oder im übernächsten Dorf. Das Gleiche gilt für Schulen, Ärzte oder andere Versorgungseinrichtungen. Das ist ein sehr umfangreiches und spannendes Feld, was ich gerne aktiv erforschen möchte.

Welche Radthemen müssen sonst noch dringend erforscht werden?

Ich möchte voranbringen, dass Gender- und Flächengerechtigkeit in der Verkehrsplanung mitgedacht wird. Dabei geht es nicht nur um das Fahrrad, sondern auch um den Fußverkehr und insbesondere um mobilitätseingeschränkte Menschen und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Es wäre toll, wenn wir unser Verkehrsangebot so ausbauen können, dass man morgens aufsteht und sich überlegen kann: Gehe ich heute zu Fuß, fahre ich mit dem Rad, brauche ich heute ein Auto oder kann ich mit Bus und Bahn fahren? Und wenn man sich dann sagt: Ich könnte alles nutzen und lasse das Auto stehen, wäre das ideal.