Ex-Präsident der Sowjetunion gestorben: Gorbatschow folgt Glasnost ins Grab

Im Westen wurde er verehrt: Michail Gorbatschow, der das Ende der UdSSR einläutete. Russlands Krieg in der Ukraine muss ihn geschmerzt haben.

Michail Gorbatschow

Der frühere Präsident der Sowjetunion 1999 im Interview mit US-Reportern Foto: John Kringas/Chicago Tribune/Zuma Press/dpa

Seine Beileidsbekundungen zum Tod von Michail Gorbatschow dürften Russlands Präsidenten Wladimir Putin nicht leicht über die Lippen gekommen sein. Ja mehr noch: Er und seine Entourage weinen, ganz anders als viele im Westen, dem einstigen Generalsekretär der KPdSU sowie dem letzten und einzigen Präsidenten der Sowjetunion, keine Träne nach. Warum sollten sie auch?

Schließlich steht Gorbatschow wie kein anderer für den Untergang der einst so mächtigen Sowjetunion, die doch auf ewig währen sollte. Dieses „unsägliche“ Erbe zumindest teilweise zu revidieren, das ist das Projekt von Präsident Putin – sei es auch durch Anwendung von Gewalt und um den Preis zahlloser verlorener Menschenleben, wie derzeit in der Ukraine.

Doch es geht nicht nur um den Versuch, dem einstigen Imperium wieder Leben einzuhauchen und zu vergangener Größe zu verhelfen. Begriffe, wie Glasnost und Perestroika, muten im Russland von heute nahezu futuristisch an. Wo sind die Parlamentsdebatten, die zu Zeiten Gorbatschows Zigtausende vor den Bildschirm holten? Wo sind die Medien, die Kontroversen abbildeten und den Raum bekamen, auch unangenehme Wahrheiten zu thematisieren?

Und: Wo sind sie, die Men­schen­recht­le­r*in­nen, die damals damit begannen, sich mit den Verbrechen der Stalin-Zeit auseinanderzusetzen? Die Antwort fällt so klar wie kurz aus: Zum Schweigen gebracht. So gesehen haben Putin und seine Getreuen Gorbatschow schon beerdigt, und das bereits vor langer Zeit. Was wird von dem Mann, der Weltgeschichte geschrieben hat, in Erinnerung bleiben? Das Bild ist zwiespältig und ambivalent.

Zum einen die Erkenntnis, dass er seiner Zeit weit voraus war, ohne jedoch ein Demokrat im eigentlichen Sinne gewesen zu sein, als der er im Westen, aus verständlichen Gründen, so gerne gesehen und letztendlich bis heute verklärt wird. Dennoch bleibt es sein Verdienst, Türen in Richtung Westen aufgestoßen, die ehemaligen Satelliten entlassen und die europäische Nachkriegsordnung nachhaltig geprägt zu haben.

Doch trotz aller Widersprüchlichkeiten und unterschiedlicher Bewertungen – dem Menschen und Politiker Gorbatschow haftet eine gewisse Tragik an. Diese besteht vor allem darin, bis zum Schluss seines Lebens eins nicht verstanden zu haben: dass es seine Reformen waren, die in letzter Konsequenz den Zusammenbruch der Sowjetunion unweigerlich zur Folge haben mussten.

Russlands Krieg gegen die Ukraine – diese Entwicklung muss für Gorbatschow schmerzhaft gewesen sein. Man hätte ihm wünschen wollen, dass ihm die letzten Monate erspart geblieben wären. Und nicht nur ihm. Wie dieses Abenteuer für Russland ausgehen wird, weiß niemand. Manche Be­ob­ach­te­r*in­nen schließen auch einen Zerfall Russlands nicht aus.

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Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.

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