Manieren in der Öffentlichkeit: Die Outcasts tanzen nachts

Die japanische Gesellschaft ist bekannt für ihren rücksichtsvollen Umgang mit ihren Mitmenschen. Es gibt aber auch welche, die von der Norm abweichen.

Eine bunt beleuchtete Straße abends in Tokio

Sobald es dunkel wird, tummeln sich auf Tokios Straßen jene, die von der Norm abweichen Foto: Panthermedia/imago

In Japan trägt fast jeder Mann einen Anzug, wenn er morgens zur Arbeit fährt. Auch bei 38 Grad Außentemperatur. Wenn Ja­pa­ne­r:in­nen umgekehrt in Deutschland sind, wundern sie sich über die Kleidung der morgendlichen Bahnfahrgäste. „Haben die heute alle frei?“, fragen sie dann. Erzählt man ihnen, dass Hoodie und Jeans auch im Büro getragen werden dürfen, staunen sie nicht schlecht.

Anzug tragen ist nicht das Einzige, das die japanische Gesellschaft vereinheitlicht. Seit Ausbruch des Coronavirus tragen die Menschen in der Öffentlichkeit stets eine Maske. Auch im Sommer, beim Joggen. Beim Fahrradfahren. Im Fitnessstudio. Im Club. Nicht so pseudo unter der Nase hängend, sondern fest über Mund und Nase. Wer keine trägt, fällt auf.

Wie sollen sie denn da eine quarzen, fragt sich vielleicht der eine oder andere. Die Antwort – gar nicht. Neben den Bordsteinkanten liegen keine halb aufgerauchten Zigarettenstummel herum, denn rauchen ist auch auf den Straßen an vielen Orten verboten. Für diejenigen, die trotzdem rauchen wollen, gibt es vorgesehene Rauchspots. Wer außerhalb dieser Bereiche raucht, kann mit Bußgeld bestraft werden.

Auch in der Bahn achten die Menschen darauf, niemanden zu stören. Geredet wird kaum, und wenn, dann in Flüsterton. In großen Städten wie Tokyo fahren manche zwei Stunden mit der Bahn zur Arbeit und abends wieder zwei Stunden zurück. Viele wollen in diesen Morgenstunden ihre einzig mögliche Ruhe genießen, und diese bekommen sie auch. Je­de:r für sich eingekehrt, auf den Smartphone starrend, den Tag beginnend.

Wer aus dem Raster fällt, wird nicht aufgefangen

Schon Kindern wird in Japan eingeprägt, dass gesellschaftlicher Komfort großen Wert hat. Niemand soll nur an sich denken, alle denken kollektiv. Den Alltag so leben, dass niemand anderes davon belästigt wird – die Vorteile von dieser Ruhe und dieses rücksichtsvollen Umgangs genießt die Gesellschaft letztendlich selbst. Daher lehnen sich nur wenige dagegen auf.

Jene, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen können, werden gnadenlos ausgegrenzt, manche sogar aussortiert. Also Obdachlose, Drogenabhängige, psychisch Kranke. Auf Menschen, die Mord begangen haben, wartet die Todesstrafe. Nur wenige wollen ihnen eine Chance geben, damit sie den Weg zurück in die Gesellschaft finden.

Abends aber, Stunden nachdem die Sonne untergegangen ist, kommen manche der Outcasts aus ihrem Loch. Außenseiter:innen, die nicht ins System passen oder passen wollen. Queers, die ihre Neigung frei zum Ausdruck bringen. Tätowierte, die ihre Kunst auf dem Körper nicht mehr verbergen. Tänzer:innen, die auf den Straßen ihre Bühne finden. Auf einmal sind die Menschen bunt und frei, mehr als die Hälfte verzichtet auf die Regeln, die tagsüber gelten.

Die Outcasts genießen ihre Freiheit aber nur für wenigen Stunden bei Nacht. Sobald die erste Bahn wieder fährt und die Männer mit ihren Anzügen die Waggons füllen, verkriechen sich die Outcasts in ihre Unterschlüpfe. Und warten wieder auf die Abendstunden, um ihren Raum einzunehmen.

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In Tokyo und Hamburg aufgewachsen, Auslandsjahr in Shanghai. Studium in Berlin, Chongqing und Halle. Schreibt seit 2021 für die taz. Kolumnistin des feministischen Magazins an.schläge (Foto: Hella Wittenberg)

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