Verloren gegangene Gefühle: Sie kommen wieder

Ständig lernen wir Neues und vergessen dafür Altbekanntes. Doch manchmal kehren auch längst verdrängte Gefühle und Fähigkeiten zurück.

Kreidezeichnung dreier Mädchen auf Asphalt.

Kreidezeichnung auf einer Berliner Straße: Oft verlernen wir Dinge, die wir als Kinder konnten Foto: Frank Sorge/imago

Letztes Mal habe ich mich gefragt, was mit verschleppten Gefühlen passiert, und heute kann ich es beantworten. Also ich versuche es jedenfalls. Ich habe mich in den letzten Wochen gezwungen, Dinge zu tun, die ich mir sonst nicht zutraue oder die mich müde machen: Ich bin viel rausgegangen, ich war stundenlang im Wald spazieren und war auf Veranstaltungen, an denen viele Menschen anzutreffen sind. Stets vorsichtig, es ist ja immer noch Pandemie, aber immerhin rausgegangen. Am Abend nach solchen Tagen war ich müde und habe mich gefragt, wovon ich eigentlich müde bin. Früher ging es doch auch. Und irgendwann hat es klick gemacht. Wenn ich jetzt glücklich sein will, muss ich aufhören, mich mit früher zu vergleichen.

Als ich noch sehr klein war, ungefähr vier Jahre alt, habe ich immer stundenlang in einer bestimmten Position gesessen. Auf dem Boden, Knie aneinander und Beine seitwärts abstehend. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt gut beschrieben habe oder nicht. Jedenfalls saß ich als Kind stundenlang so da und habe gemalt, mit mir selbst gesprochen und der Tag verging.

Ich kann nicht mehr so sitzen. Egal, wie sehr ich mich vorher dehne, ich kann es einfach nicht. Weil ich nicht mehr so dehnbar bin wie mit vier Jahren. Dafür kann ich andere Dinge: Ich kann kochen (beziehungsweise die Rezepte googeln und den Ofen für ’ne Tiefkühlpizza bedienen), ich kann Auto fahren, gute Ratschläge geben, spreche vier Sprachen und kann mich selbst verteidigen, wenn mir jemand zu nah kommt. Das konnte ich mit vier Jahren nicht.

Der Punkt, den ich hier machen will: Man sollte sich nicht mit früher vergleichen, wenn man heute glücklich sein möchte. Fähigkeiten kommen und gehen, manche bleiben für immer, aber es kommen vor allem immer neue dazu. Mit dem letzten Punkt habe ich mich immer schwergetan. Ich habe oft gedacht: Was ist, wenn ich nichts mehr lernen kann? Wenn ich alles gelernt habe und nicht mehr die Fähigkeit und Geduld für Neues habe? Dann macht das Leben doch keinen Sinn mehr, oder? Oder was ist, wenn ich alles gefühlt habe, was es im Leben zu fühlen gibt, und nichts mehr dazukommt?

Endlich wieder etwas fühlen

Diese Frage kann ich nicht beantworten, aber ich hatte neulich Besuch von alten, längst verloren geglaubten Gefühlen: Hoffnung, Aufregung und aufrichtige, pure Freude. Als meine beste Freundin geheiratet hat und ich sah, wie Liebe sie umgibt und ihr folgt, überall, wo sie hingeht. Als mein Neffe gelacht hat, als ich ihm ein ausgedachtes Lied vorsang. Als ich auf dem Sofa eines Freundes saß und so aus dem Bauch gelacht habe wie schon lange nicht mehr. Als mein Partner und ich im Auto saßen nach einer Verabredung und noch lange Musik hörten und laut mitsangen. Als ich eine schwere Aufgabe gemeistert habe, vor der ich wochenlang gezittert habe.

Verschleppte Gefühle kommen also wieder, manche sind schön, andere weniger. Aber sie kommen wieder und es ist gut, wieder etwas zu fühlen.

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Journalistin, Speakerin und freie Kreative. Kolumne: "Bei aller Liebe". Foto: Pako Quijada

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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