Jahrestag der deutschen Verfassung: Die Macht der Interpreten

Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe sind in der Praxis wichtiger als das Grundgesetz. Am wichtigsten aber ist die Gesellschaft.

Zuschauer stehen vor geöffneten Fenstern

Schaulustige verfolgen durch die Fenster die Verabschiedung des Grundgesetzes Foto: Ullstein

The Singer Not the Song“ ist ein altes Stück der Rolling Stones. Auch wenn der Titel nicht vom Grundgesetz handelt, ließe sich der Gedanke gut übertragen: Es kommt nicht so sehr auf die Verfassung und ihren Wortlaut an, sondern vor allem auf die Interpreten. Und so ist auch der Erfolg des Grundgesetzes vor allem ein Erfolg des Bundesverfassungsgerichts, das das Grundgesetz sieben Jahrzehnte lang konkretisiert, interpretiert und angewandt hat.

Natürlich war es eine schöne Idee des Parlamentarischen Rats, das Grundgesetz mit den Grundrechten der Bür­ge­r:in­nen beginnen zu lassen – während sie in der Weimarer Verfassung noch am Ende versteckt wurden. Was die Grundrechte dann aber in der Praxis wert sind, entscheidet erst das Bundesverfassungsgericht.

Und natürlich gibt es wichtige Aussagen im Grundgesetz. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, das ist ein Satz, der bei der Abschaffung diskriminierender Gesetze sehr hilfreich war. Aber ohne den Druck des Bundesverfassungsgerichts hätten die patriarchalen Gesetze im Nachkriegsdeutschland vermutlich noch lange bestanden.

Die Garantien einer Verfassung beziehen sich fast alle auf Rechtsbegriffe, die erst noch konkretisiert werden müssen. So gewährleistet das Grundgesetz die Freiheit, „sich zu versammeln“. Doch was heißt das genau? In seinem legendären Brokdorf-Beschluss von 1985 gab Karlsruhe einen handfesten Maßstab vor: De­mons­tran­t:in­nen haben das Recht, „über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung“ selbst zu bestimmen. Seitdem ist die Versammlungsfreiheit neben der Meinungsfreiheit wirklich ein unverzichtbarer Bestandteil der freiheitlichen Demokratie.

Kühn und konkret

Aus vagen Maßstäben machte das Verfassungsgericht also konkrete Maßstäbe. Und es sorgte dafür, dass das Grundgesetz auf der Höhe der Zeit blieb. So entwickelte Karlsruhe in seinem Volkszählungsurteil von 1983 ein Grundrecht auf Datenschutz („informationelle Selbstbestimmung“), weil es 1949 ja noch keine Computer gab.

Ganze Lebensbereiche hat Karlsruhe auf diese Weise kühn ausgestaltet. So hat das Gericht die im Grundgesetz erwähnte Rundfunkfreiheit genutzt, um über Jahrzehnte mit über einem Dutzend Urteilen die verfassungsrechtlichen Regeln für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu entwickeln und ihm eine Bestands- und Entwicklungsgarantie zu geben. Dabei werden die öffentlich-rechtlichen Sender – ARD, ZDF und Deutschlandradio – im Grundgesetz nicht einmal erwähnt. Geschützt werden sie durch die Verfassungsrichter, nicht durch die Verfassung selbst.

Selbst die praktisch wohl bedeutsamste Verfassungsnorm, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, steht nicht im Grundgesetz, sondern wurde vom Bundesverfassungsgericht 1957 dort hineininterpretiert. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist deshalb so wichtig, weil sich mit diesem Prinzip die meisten Grundrechtskonflikte rational und ausgewogen lösen lassen. Außerdem hat sich das Verfassungsgericht damit ein äußerst flexibel anwendbares Werkzeug geschaffen.

Nehmen wir den Pazifistenvorwurf „Soldaten sind Mörder“. Er ist eine Meinung und damit vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit geschützt. Doch das heißt noch nicht viel. Alle Grundrechte (außer die Menschenwürde) darf der Staat durch Gesetze beschränken – wenn er dafür legitime Gründe hat. Der Schutz der Ehre ist so ein legitimes Ziel. Deshalb sind Beleidigungen strafbar. Am Ende müssen daher der Schutz der Meinungsfreiheit und der Schutz der Ehre gegeneinander abgewogen werden. Ist die Beschränkung des Grundrechts geeignet, erforderlich und angemessen, um das politische Ziel zu erreichen? Welche Beschränkung ist noch verhältnismäßig, und wo wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen? Letztlich entscheidet das Bundesverfassungsgericht so immer wieder neu über die praktische Relevanz der Grundrechte.

So beschloss Karlsruhe 1995, dass der Spruch „Soldaten sind Mörder“ zulässig ist, solange alle Soldaten der Welt gemeint sind. Er kann aber als Beleidigung bestraft werden, wenn damit ein konkreter Soldat oder speziell die Soldaten der Bundeswehr angesprochen sind. Ein typischer Karlsruher Kompromiss.

Aber manchmal genügt auch ein typischer Karlsruher Kompromiss nicht, um einen Konflikt zu befrieden. Während normalerweise nach einem Urteil des Gerichts alle einigermaßen zufrieden sind, gab es nach dem „Soldaten sind Mörder“-Beschluss heftige konservative Kritik. Dies dürfte auch daran gelegen haben, dass die Rich­te­r:in­nen damals nicht einstimmig, sondern mit der denkbar knappsten Mehrheit von fünf zu drei Stimmen votierten. Außerdem gab es Mitte der 1990er weitere tendenziell liberale Urteile, die nur mit fünf zu drei Richterstimmen zustande kamen, etwa die Entscheidung gegen Kruzifixe in Schulen oder gegen die Strafbarkeit von Sitzblockaden. Das Gericht wirkte gespalten, die Entscheidungen unausgewogen.

Doch die Rich­te­r:in­nen haben aus dem Konflikt gelernt und seither Entscheidungen in der Regel einstimmig oder mit großer Mehrheit getroffen. Nur so kann ein pluralistisch besetztes Gericht wie das Bundesverfassungsgericht signalisieren, dass die gefundene Lösung wirklich ein ausgewogener Kompromiss ist. Und ein bisschen wird durch ein einmütig ergangenes Urteil auch die Illusion genährt, dass die Rich­te­r:in­nen hier nicht nur gründlich ausdiskutierte Lösungen präsentieren, sondern direkt das Grundgesetz durchsetzen.

Unbeliebte Entscheidungen

Diese hohe Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts in der Bevölkerung ist vor allem dann nötig, wenn das Gericht eher unpopuläre Entscheidungen trifft, insbesondere wenn es die Grundrechte von unbeliebten und ausgegrenzten Minderheiten schützt, etwa von straffälligen Aus­län­der:in­nen, Zeugen Jehovas oder Rechts­ex­tre­mist:in­nen.

So war Anfang der 2000er das Demonstrationsrecht massiv in Gefahr, nachdem der damalige Kanzler Gerhard Schröder (SPD) einen „Aufstand der Anständigen“ gegen Rechtsextremisten ausrief und deren Kundgebungen daraufhin von den Behörden fast schon routiniert verboten wurden. Wochenende für Wochenende musste daher eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts um den liberalen Richter Wolfgang Hoffmann-Riem Sonderschichten absolvieren und ließ viele der zunächst verbotenen Kundgebungen dann doch zu. Von dieser Karlsruher Standhaftigkeit profitieren randständige Mi­lieus aller Couleur bis heute.

Man muss sich aber auch von der Vorstellung frei machen, dass Karlsruhe immer Vorreiter oder zumindest Verteidiger von Liberalisierungen gewesen wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat durchaus auch schon liberale Reformen gebremst, insbesondere in den 1970ern, als es unter Kanzler Willy Brandt (SPD) erstmals in Deutschland eine fortschrittliche Bundesregierung gab. Am bekanntesten sind die Urteile gegen die Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch, gegen die Postkartenlösung bei der Kriegsdienstverweigerung und gegen die Demokratisierung der Hochschulen.

Selbst die Gleichstellung der Homosexuellen, die heute oft dem Bundesverfassungsgericht zugeschrieben wird, wäre anfangs beinahe von Karlsruhe torpediert worden. Eine Verfassungsklage gegen die Einführung der eingetragenen Partnerschaft wurde 2002 nur mit knapper Mehrheit abgelehnt. Die nötigen Reformschritte kamen zunächst ausschließlich von der Politik. Erst ab 2009 wurde das Gericht zum Motor der Entwicklung und forderte weitere Angleichungen der eingetragenen Partnerschaft an die Ehe. Den Schlussstein im Jahr 2017, die Einführung der Ehe für alle, setzte dann wieder der Bundestag.

Letztlich ist die Liberalisierung der deutschen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten also weder eine Folge des Grundgesetzes noch das Werk des Bundesverfassungsgerichts. Vielmehr hat sich die Gesellschaft vor allem selbst liberalisiert. Alte Ordnungen – Familie und Kirche – verloren an Kraft, die Menschen orientierten sich stärker an ihren individuellen Zielen und Interessen und lebten dadurch freier. Also wählten sie auch verstärkt Parteien, die diese Liberalisierung akzeptierten und durch Gesetze absicherten und ausgestalteten.

Das Bundesverfassungsgericht wirkt mal als Antreiber, mal als Bremsklotz liberaler Reformen. Nicht immer ist vorab klar, wie Karlsruhe entscheiden wird. Diese Ambivalenz und Unberechenbarkeit macht das Gericht zur Projektionsfläche großer Hoffnungen – und zwar aller Seiten. So gesehen ist das Bundesverfassungsgericht also eher eine Integrationsmaschine, die die Gesellschaft zusammenhält, als ein Liberalisierungsmotor mit eigener Agenda.

Wer also in Deutschland wirklich die Freiheit feiern will, sollte deshalb die Freiheit feiern, aber nicht den Staat, das Grundgesetz und seinen Interpreten, das Bundesverfassungsgericht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.