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Notizen aus dem Krieg„Durch das Loch im Vorhang“

Fünf Tage lang versteckte sich Maria Tarasenko mit ihrer Familie vor den russischen Soldaten in Butscha. Der Bericht einer Überlebenden.

Butscha: Zwei Schwestern, die voneinander nicht wussten, ob sie überlebt haben, treffen sich wieder Foto: Roman Pilipey/epa

Maria Tarasenko ist 23 Jahre alt. Sie wohnte mit ihrer Familie in Butscha, einem Vorort von Kiew, studierte Kulturwissenschaften an der Kiew-Mohyla-Akademie sowie Journalistik an der Universität von Mariupol. Daneben jobbte sie als Model – sie nennt Modeling ihr Hobby. Dann begann der Krieg. Sie war in Butscha, als die Russen kamen. Mit Glück überlebte sie die Massaker an der Zivilbevölkerung. Doch sie wurde Augenzeugin der Gewalt.

Ja, ich habe weite Zukunftspläne gehabt. Nein, ich erwartete keinen Krieg. Dann war alles anders.

Ich zähle nicht mehr, wie viele Male ich schon versuchte, meine Geschichte zu erzählen. Meine Familie (Mutter, Vater und Hund) und ich waren in Butscha Gefangene der russischen Faschisten. Gefangene in unserem Versteck. Es dauerte fünf Tage. Fünf Tage Hölle.

Es begann damit, dass mein Vater, ein Nachbar und ich auf der Straße beobachteten, wie die russischen Panzer in unserem Gebiet auffuhren. Als sie uns sahen, fingen sie an, auf uns zu schießen.

Danach ist alles wie im Traum.

Wir haben uns in unserer Wohnung versteckt; ein Großteil der Einwohner von Butscha dagegen versteckte sich in Kellern – das war ein großer Fehler.

Die russischen Faschisten verteilten sich wie Kakerlaken über unser Viertel. Sie bezogen Stellungen. Einer von ihnen rannte ins Erdgeschoss unseres zweistöckigen Mehrfamilienhauses, schlug alle Fenster mit seiner Kalaschnikow ein und rief mit viehischer Stimme: „Kommt raus, Bandera-Schlampen, wir werden euch alle finden und töten!“ Der zweite, ein Scharfschütze, kletterte auf den Dachboden, wir hörten jeden seiner Schritte.

Wir saßen in der Wohnung im zweiten Stock. Wie erstarrt.

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Ich werde jetzt nicht ins Detail gehen, wie wir, erschöpft von der schrecklichen Kälte, die Heizung ging schon seit dem vierten Kriegstag nicht mehr, nicht geschlafen haben, überhaupt nicht gegessen haben, Wasser aus einem Glas einmal am Tag getrunken haben, auf Zehenspitzen gelaufen oder gar nicht gelaufen sind. Manchmal hielten wir den Atem an.

Wie wir eine dicke Schicht Toilettenpapier in die Toilette legten, damit die Okkupanten das Rieseln des Urins nicht hörten. Wie ich das Maul unserer Hündin zuhielt, weil ein einziges „Wau“ uns den Kopf hätte kosten können. Und manchmal musste ich sie (Gott, wie furchtbar) schlagen, damit sie nicht über den Boden lief.

In der Zwischenzeit gelang es mir, den „Kobsar“, eine Gedichtsammlung unseres Nationaldichters Taras Schewtschenko, zu lesen, zu weinen und durch ein Loch im Vorhang vorsichtig zu beobachten, wie die Leute, die sich in den Kellern versteckten, von den Raschisten mit vorgehaltener Waffe herausgeführt wurden. Die Männer wurden weggebracht. Wohin? Unbekannt.

Menschen wurden geschlagen, getötet, Frauen vergewaltigt. Ich hörte Schreie und Geheul.

Hunde wurden erschossen.

Die Wohnungen wurden beschossen oder mit Brecheisen aufgebrochen, Menschen wurden mit vorgehaltenem Maschinengewehr aus ihren Wohnungen herausgezerrt oder vor Ort erschossen.

In den Wohnungen machten die Eindringlinge Feuer, tranken, aßen, schissen und schliefen dort. Und sie raubten (natürlich), US-Dollars, ukrai­nische Hriwna (wozu?), Schmuck, Lebensmittel. Fast allen wurden ihre Telefone gestohlen, kaputt gemacht, wenn die Russen sie nicht brauchen konnten, mitgenommen, wenn sie ihnen gefielen.

Im Nachbarhaus wurde Tränengas in die Keller geschossen, damit die Menschen herauskämen. Männer mussten sich in der Kälte nackt ausziehen und über den Asphalt kriechen, und die Raschisten schossen lachend auf sie wie auf Zielscheiben. Ein Junge wurde direkt in die Stirn getroffen. Frauen wurden gezwungen, niederzuknien und sich für ihre Ehemänner zu „entschuldigen“. Eine Frau wurde angeschossen, sie verblutete. Eine ganze Familie wurde dort getötet. Viele wurden weggebracht. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.

In der Nähe unseres Hauses war eine Kreuzung, und die Orks fuhren hin und her. Ich sah, wie und wohin sie fuhren und wie viele sie waren.

An dem schicksalhaften Tag, als sie in unseren Bezirk kamen, hatte ich mein Telefon zum Aufladen in einem Auto auf der Straße angeschlossen. Im Haus gab es doch keinen Strom mehr. Wasser nahmen wir aus dem Heizkörper. Es war dunkelbraun. Einen Monat lang haben wir uns nicht gewaschen. Es ist unmöglich, wenn es im Hause nur fünf Grad sind. Irgendwann hielt ich schon eine Schere in der Hand, um mir die Haare abzuschneiden. Von Licht konnten wir nur träumen, wir zählten Streichhölzer in Schachteln, um Kerzen anzuzünden.

Dann also hatte es angefangen, man schoss aus Panzern auf uns, als wir auf der Straße waren, wo wir die Handys von meiner Mutter und mir angeschlossen hatten. Wir flohen in unsere Wohnung. Ein Nachbar erzählte später, dass er gesehen habe, wie das Auto kaputt geschlagen wurde. Die Telefone hätten sie mitgenommen.

Uns blieb nur noch das Handy meines Vaters. Mit dem war ich in Kontakt, mit meiner Schwester und mit den ukrainischen Streitkräften. Denn von uns aus konnte man Irpin, Hostomel und das Zentrum von Butscha gut überschauen. Ich habe ständig den Streitkräften im Chatbot von Telegram Informationen weitergegeben. Ich gab ihnen detaillierte Infos über feindliche Ziele. Mit den Resten der Ladung in der Powerbank gelang es mir, das Telefon meines Vaters fünfmal hintereinander mit drei Prozent aufzuladen. Unter der Bettdecke meldete ich die Positionen der Russen. Mit drei Prozent Ladung gab ich immer wieder Hinweise.

Ich hörte, wie eine Wohnungstür unseres Hauses nach der anderen eingeschlagen wurde. Ich hörte, wie jetzt wir an der Reihe waren, hörte, wie an unserer Türklinke gezogen wurde. Die Eltern in Tränen, aber die Tür gab nicht nach. Ich schaute stoisch weiter durch das Loch im Vorhang und merkte mir alles, was ich sah und von den Raschisten hörte. Verdammt, bis zuletzt. Ich wusste, dass wir nicht gerettet werden würden, also handelte ich so.

Warum die Raschisten die Tür nicht eingeschlagen haben? Wahrscheinlich weil sie gepanzert war und es einfacher ist, gleich das ganze Haus in die Luft zu sprengen als nur die Tür. Und da war auch die alte Frau von nebenan, die die Orks beherzt anlog. Sie war von ihnen anfangs in den Keller gebracht worden, ist aber in ihre Wohnung zurück.

Da man mehrmals verdächtige Geräusche aus unserer Wohnung hören konnte, gingen die Orks immer wieder zu ihr und fragten sie, ob jemand hier sei. Und sie wiederholte stets: „Hier ist niemand; ich bin allein.“ Obwohl sie sehr wohl wusste, dass wir alle getötet würden, wenn der Hund, dem ich das Maul zuhielt, bellt.

Man kann sagen, dass die Frau uns gerettet hat. Sonst hätten die Orks uns umgebracht. Sie suchten gezielt nach unserer Familie, von den Kollaborateuren hatte uns jemand verraten, hatte erzählt, dass wir mit Mariupol in Kontakt seien. Mariupol ist ein rotes Tuch für sie.

Aber wir haben überlebt.

Erst später wurde mir gesagt, dass ich wahrscheinlich Hunderte Menschen gerettet habe. Denn diese Banditen bewegten sich von unserem Stadtteil aus auf das Zentrum von Butscha und das Wohnviertel Sklozavod zu. Dank meiner Informationen über die Stellungen und Bewegungen der Besatzer habe die gesamte Kompanie der Russen, die in unserem Viertel stationiert war, das Zentrum nie erreicht. Sie sind, wie der Raketenkreuzer „Moskwa“, untergegangen.

In diesen fünf Tagen, eingesperrt in unserer Wohnung, wusste ich nicht, was ich tat und warum. Ich habe es einfach getan.

Das ist alles.

Meine ältere Schwester hat uns aus dieser Hölle herausgeholt. Während meine Eltern und ich uns jeden Tag in Butscha vom Leben verabschiedeten, konnte ich mir nicht einmal vorstellen, wie viele Menschen sich um uns kümmerten und wie viel Aufwand betrieben wurde, um uns zu retten.

Einen offiziellen grünen Korridor aus den Vororten hat es nie gegeben. Alle, die gegangen sind, haben ihr Leben riskiert, wir auch.

Es ist meinen Freunden und Kommilitonen aus der Akademie, die Verbindungen zu unserem Militär haben, zu verdanken. Durch sie bekamen wir Kontakt zu einem sehr erfahrenen Freiwilligen aus Worsel, der erst seine Familie aus der Hölle holen konnte, mithilfe des Militärs, das genau koordiniert hat, wo und an welchen Checkpoints Raschisten sind. Danach begann er, anderen zu helfen. Auch uns.

Uns wurde eine spezielle SMS mit Codes geschickt, wie und wohin wir gehen, wie wir wem in die Augen sehen und was wir sagen sollen.

Dies war der Weg nach Kiew.

Also gingen wir ins Nirgendwohin. Mit der Einsicht, dass wir es wohl nicht schaffen werden. Ich erinnere mich, dass ich mich von der Wohnung verabschiedet habe, das war’s.

Meine lieben Kiew-Mohyla-Studienfreunde, ich werde es immer wieder wiederholen: Vielen Dank für alles, was ihr für mich und meine Familie getan habt. Vielen Dank für eure moralische und finanzielle Unterstützung. Ihr seid unglaublich, und ich liebe euch sehr.

Wir sind nicht weit gelaufen, bis nach Kiew. Und wir planen nicht weiter.

Butscha, der einst wohlhabende Vorort Kiews, existiert nicht mehr. Er wurde mit den Einwohnern zusammen dem Erdboden gleichgemacht.

Ich weiß nicht, wie ich es jetzt doch geschafft habe, alles, was wir durchgemacht haben, Buchstabe für Buchstabe herauszuquetschen. Vielleicht wird mir danach etwas leichter zumute.

Dies ist jedoch nicht unsere einzige Tragödie. Es gibt noch eine – mein liebes Mariupol. Meine Mutter stammt von dort.

Aus dem Ukrainischen Ljuba Danylenko

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