Familienrechtsexperte über Kindeswohl: „Hier wird getrickst“
Um Umgangsrechte durchzusetzen, lassen Gerichte von der Polizei Türen einrammen. Der Familienrechtsexperte Ludwig Salgo fordert ein Ende dieser Praktiken.
taz: Die Studie „Familienrecht in Deutschland“ von Wolfgang Hammer warnt: Gerichte gefährden Kinder, indem sie sie grundlos von ihren Müttern trennen. Teilen Sie die Sorge?
Ludwig Salgo: Das ist ein harter Vorwurf. Es gibt indes viele Stimmen von Müttern und Kindern, aber auch von Experten, die zeigen, dass er nicht unberechtigt erscheint. Manche Familiengerichte und Jugendämter stellen den Schutz des Kindeswohls hintenan, um Umgang um fast jeden Preis durchsetzen. Zur Einschätzung der Größenordnung der Problemlage brauchen wir zusätzlich hochqualifizierte, interdisziplinäre Forschung.
Was bedeutet Umgang durchsetzen?
Bei der Frage des Umgangs des Kindes mit dem nicht mit ihm zusammenlebenden Elternteil – das ist zumeist der Vater – wird auch häusliche Gewalt immer wieder ignoriert. Und klappt dann so ein Umgang nicht, kommt es zu gerichtlichen Anordnungen, und Mütter verlieren ihr Sorgerecht. Es kommt nicht nur ausnahmsweise zum Einsatz von staatlicher Gewalt. Gerichtsvollzieher kommen mit der Polizei und schlagen schon mal Türen mit Rammen ein. Zur Durchsetzung des Umgangs ist der Einsatz von Gewalt gesetzlich verboten. Aber hier wird getrickst und unterstellt, dass das Kindeswohl erheblich gefährdet sei, wenn ein Kind Umgang ablehnt. Nur: Welche Spuren hinterlässt ein solcher Einsatz der staatlichen Zwangsmittel beim Kind, frage ich mich. Wird es sich bei Bedarf vertrauensvoll an die zum Schutz des Kindes verpflichteten Organe wenden?
75, ist außerplanmäßiger Professor für Rechtswissenschaft und Seniorprofessor für Erziehungswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Ist das Kindeswohl ohne diesen Umgang gefährdet?
Nein. Die wissenschaftliche Erkenntnislage sagt, dass diese Kinder deshalb nicht gefährdet sind. Es kommt primär auf völlig andere Bedingungen für diese bereits oft hochbelasteten Kinder an. Diese nicht zu rechtfertigende staatliche Intervention trifft immer wieder Kinder, die gut in der Schule integriert sind, die Freunde haben, im Schulorchester spielen, wo auch die Großeltern präsent sind. Kinder, die eine gute Bindung zu den Müttern haben und keinerlei Auffälligkeit zeigen. Nur dieser Umstand einer „Umgangsverweigerung“ führt dann dazu, dass sogar Jugendämter manche dieser Kinder in Obhut nehmen. Statt sie zu schützen und sich mit ihrem Widerstand zu befassen, wird Umgang durchgesetzt.
Und so kommt es zur Trennung von Mutter und Kind?
Es ist meistens diese Konstellation. Dabei liegt die Voraussetzung der „dringenden Gefahr“ für das Wohl des Kindes, die bei einer Inobhutnahme zu beachten ist, nicht vor. Oder gar die andere Voraussetzung, dass ein Kind um Inobhutnahme bittet.
Was sagen Sie zum Argument: Fehlt Vaterkontakt, schadet das im späteren Leben?
Das ist wissenschaftlich nicht erwiesen. Es gibt aber auch diese nachgewiesene Erfahrung mit verweigernden Kindern: Gucken wir nach ein, zwei Jahren, sieht die Situation oft anders aus. Kinder suchen und finden dann oft den Kontakt. Man muss den Kindern Zeit lassen; sie unter Druck mit Zwangskontexten zu setzen, hat kontraproduktive Effekte. Wir wissen aus der Forschung, dass Kinder, die zu Umgang gezwungen wurden, ein schlechtes Verhältnis diesem Elternteil haben. Hier kann man Langzeitschäden anrichten. Umgangsverweigerung ist deshalb kein Grund, Gewalt gegen Kinder anzuwenden und ihnen die vertraute Umgebung zu nehmen. Übrigens scheitert oft der Wechsel zum Vater. Viele Kinder kommen dann in Einrichtungen – als eine Art „Bestrafung“ auch der Mütter.
Diese Studie von Wolfgang Hammer beleuchtet die Zeit seit 1998. Gab es Fehler bei den Kindschaftsreformen?
Die Reformgesetze sind grundsätzlich nicht schlecht, bis auf eine Überbetonung des Umgangsrechts. Das Gesetz sagt, dass Umgang in der Regel dem Wohl des Kindes dient. Das stimmt. Der „Regelfall“ meint aber nicht die Hochstrittigkeit oder das oft über lange Zeiträume fortwährende Miterleben von häuslicher Gewalt. Inzwischen hat sich eine ganze Industrie darauf kapriziert, Umgang um jeden Preis durchzusetzen. Nur gibt es keine wissenschaftliche Rechtfertigung hierfür.
Was heißt hier Industrie?
Es gibt: Umgangspfleger, Umgangsbegleiter, mitwirkungsbereite Dritte. Und es gibt tatsächlich stationäre Einrichtungen, die im Programm haben, die Weigerungshaltungen von Kindern zu brechen. Wir haben eine sehr hohe Anzahl von Begutachtungen der Kinder. Und natürlich sind mehr Anwälte in diesem Feld beschäftigt. Wir haben die Anhörung der Kinder und die bekommen ihren Verfahrensbeistand. Nur muss man fragen, ob dies alles richtig ist, wenn wir uns derart intensiv mit den nicht gefährdeten Kindern beschäftigen. Das alles kann bei gefährdeten Kindern durchaus gerechtfertigt sein. Aber Kinder, die den Umgang verweigern, können gute Gründe hierfür haben. Sie brauchen Zeit, Akzeptanz, Ruhe, Entspannung, Erhaltung ihres vertrauten Umfelds und Zugänge zu eigener für sie vertrauenswürdiger fachlich guter Beratung, die nicht das Ziel hat, das Kind umzupolen. Was sie nicht brauchen, sind Gerichtsvollzieher und Polizei.
Laut Studie folgen Gerichte einer Doktrin. Stimmt das?
Wir haben in Deutschland viel zu wenig Scheidungsforschung. Wir wissen gar nicht, was los ist. Für Forscher ist es schwierig, überhaupt Zugang zu familiengerichtlichen Akten zu bekommen. Das ist im Strafrecht viel besser. Es gibt ganz wenige Studien zur Praxis. Die Studie ist für mich ein berechtigter Aufschrei. Nun brauchen wir repräsentative Langzeitforschung.
Wie können wir die Fehlentwicklungen korrigieren?
Es geht um Ressourcen. In der Juristenausbildung kommt das Thema Kindschaftsrecht nicht vor. Und war man dann ein Jahr Richter, kann man Familienrichter werden. Es gibt hier bereits eine gute Entwicklung. Seit Anfang dieses Jahres muss ein Familienrichter – übrigens auch ein Verfahrensbeistand – nachweisen, dass er bestimmte Kenntnisse schon hat oder alsbald erwirbt. Alle Präsidien der Gerichte müssen jetzt sicherstellen, dass sie nur noch Familienrichter einsetzen, die Kenntnisse zum Kindschaftsrecht, zum Jugendhilferecht, zum Verfahren beim Familiengericht, über Entwicklungspsychologie und Kommunikation mit Kindern haben. Das ist gut. Nur müssen wir jetzt sehen, ob die Bundesländer das auch umsetzen können. Und auch die Zeitbemessung bedarf einer Überprüfung. Ein Richter hat im Schnitt 237 Minuten pro Fall. Das reicht nicht, um den Herausforderungen dieser Fälle gerecht zu werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?