Folteropfer in der Ukraine: „In meinem Kopf war nur noch Nebel“

Als russische Soldaten die Stadt Irpin besetzten, flüchtete Wjatscheslaw Pritulenko erst in den Keller des Elternhauses – und wurde dann fast ermordet.

Ein Mann steht in Winterjacke im Wald

Wjatscheslaw Pritulenko steht nicht weit von seinem Haus, im Hintergrund steht Irpin Foto: Volodymyr Kutsenko

KIEW taz | Wir lernten uns am Abend des 1. April in einem der Höfe einer Kiewer Hochhaussiedlung kennen. Fast anderthalb Tage hatte der 33-jährige Wjatscheslaw Pritulenko gebraucht, um aus dem von russischen Besatzern eroberten Irpin in die etwa 15 Kilometer entfernte ukrainische Hauptstadt zu kommen.

Er stammt von der Krim und war mit seinen Angehörigen nach der russischen Annexion der Halbinsel 2014 nach Irpin gekommen.

Wjatscheslaw sagt, dass sich der vor dem Krieg dynamisch entwickelnde Kiewer Vorort innerhalb eines Monats nicht nur in einen Trümmerhaufen, sondern auch in einen Ort brutalster Kriegsverbrechen verwandelt hat.

„Am Anfang habe ich nicht verstanden, was überhaupt passiert. Ich dachte, in der Wohnung meiner Mutter, für die sie ihr halbes Leben gearbeitet hatte, sei ich sicher und mit dem Haus würde nichts passieren. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass Bomben oder Granaten dort einschlagen oder jemand in die Wohnung kommen könnte. Ich habe mir irgendwie eingeredet, dass das alles schnell vorbeigeht“, versucht Wjatscheslaw die Gründe zu erklären, warum er in der Stadt blieb, obwohl dort schon Kampfhandlungen stattfanden.

Detonationen hielten an, er fuhr weiter

In den ersten Märztagen, etwa eine Woche nach der russischen Invasion, verließ er das Haus zum ersten Mal. Bekannte hatten ihn gebeten, eine Angehörige zu suchen, die ein paar Kilometer weiter in einem benachbarten Stadtteil lebte. Wjatscheslaw versprach, die Frau zu finden, setzte sich auf sein Fahrrad und machte sich auf den Weg. Seit Tagen war nicht mehr geschossen worden, auch hatte er noch keine einzige Leiche gesehen.

„Kurz nachdem ich von zu Hause losgefahren war, sah ich, dass irgendetwas brannte. Als ich näher heranging, realisierte ich, dass das ein von einer Granate zerfetzter Zivilist war, von dem nur ein Teil des Torsos übrig war, an dem die Kleidung brannte. Der Kopf, die Mütze … Das war furchtbar“, erzählt er leise.

Die Detonationen hielten an, Wjatscheslaw fuhr trotzdem weiter und versuchte den von den Schüssen zerberstenden Fensterscheiben auszuweichen, die auf die Straße fielen. Nach einiger Zeit fand er das gesuchte Haus und die Großmutter: „Sie saß im Keller, zusammen mit etwa 30 weiteren Leuten. Sie weigerte sich mitzukommen. Sie hätte das vermutlich auch gar nicht geschafft. Aber das Wichtigste war ja, dass sie noch lebte und ich die Nachricht ihren Angehörigen überbringen konnte.“

Den 5., 6. und 7. März verbrachte Wjatscheslaw mit seinen Nachbarn im Keller ihres Hauses. Zu elft waren sie hier drei Tage und Nächte lang: alte Menschen, junge Menschen. Mittlerweile waren die russischen Streitkräfte bis zu ihrem Stadtviertel vorgedrungen. Es gab heftigen Beschuss, die Kämpfe tobten auch auf ihrer Straße.

Menschen richteten eine Art Küche ein

Als die Kämpfe wieder nachließen, verließen die Menschen den Keller. Draußen richteten sie sich eine Art Küche ein. Das größte Problem war der Wassermangel. Aus den Leitungen kam es nur noch in kurzen Phasen. Die Menschen schmolzen Schnee oder fingen Regenwasser auf, das sie abkochten. Es gab zwar noch Brunnen, aber jeder Versuch, dort Wasser zu bekommen, war wie russisches Roulette mit dem eigenen Leben. Um ihre Handys zu laden, holten die Leute die Batterien aus ihren Autos. Aber um die Batterien aufzuladen, brauchte man zunächst einmal Benzin. Außerdem wurde es immer schwieriger, überhaupt noch eine Mobilfunkverbindung zu bekommen.

Deshalb ging Wjatscheslaw zusammen mit seinem Nachbarn Oleg auf die Straße, als es draußen ruhig geworden war. Sie wollten eine Funknetzverbindung suchen, um ihren Angehörigen zu schreiben, dass sie noch lebten.Draußen sahen sie, dass überall Häuser brannten. Kurz darauf kamen sie zu einem Auto, neben dem die Leiche eines Mannes lag. „Auf der Rückbank entdeckten wir einen toten Hund. Und wir hörten etwas fiepen. Der Kofferraum war verschlossen, doch wir konnten über den Autorücksitz hineingreifen und eingeschlossene Hundewelpen herausholen. Plötzlich kamen russische Soldaten.“

Die Besatzer schossen mit ihren Maschinengewehren und schrien „Stehen bleiben!“. Wjatscheslaw und Oleg hoben sofort die Hände. Die Soldaten befahlen ihnen, näher zu kommen. Die beiden jungen Männer gingen langsam auf die Soldaten zu, als sie hinter sich ein Auto hörten. „Die schrien uns an: ‚Legt euch auf den Boden!‘ Wir schmissen uns hin und sie begannen, auf dieses Auto zu schießen. Die Kugeln flogen um unsere Köpfe. Während die einen schossen, schrien die anderen, dass wir näher zu ihnen herankriechen sollten.“

Danach wurden Wjatscheslaw und Oleg gefesselt und verhört: Wer sie seien, woher sie kämen und wohin sie unterwegs seien. „Sie dachten, wir seien irgendwelche Richtschützen oder zum Feuerlöschen unterwegs. Den ersten Schlag mit dem Kolben eines Maschinengewehrs bekam ich in die Kniekehlen. Ich fiel zu Boden, hielt aber trotzdem weiter meine Hände hoch“, erinnert sich Wjatscheslaw. Die Soldaten brüllten weiter, durchsuchten die beiden Männer und zwangen sie, sich auszuziehen.

Jemand schrie, er habe die beiden am Vorabend gesehen, sie seien auf jeden Fall Richtschützen und ihretwegen sei jemand von den russischen Streitkräften verwundet worden. „Ich hatte irgendwie das Gefühl, in einen Abgrund zu fallen. So, als sei ich im Wasser, meine Kleidung sauge sich voll und ich würde immer weiter nach unten gezogen.“ Ich konnte Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten. Konnte nicht mehr begreifen, was da überhaupt gerade passiert. Wie war das denn möglich? Ich war doch hier zu Hause.“ Während Wjatsches­law von dem Vorfall erzählt, merkt man, dass er immer noch total unter Schock steht.

Sechs bis acht Männer

Er bemühte sich, alles zu erklären, und sagte auf Russisch: „Wir sind Zivilisten, wir wohnen in der Puschkinstraße, bei uns im Keller sind elf Menschen – Frauen und Kinder. Sie können das glauben. Wir haben drei Tage im Keller verbracht, und sind nur herausgekommen, um eine Handyverbindung zu bekommen. Das ist alles.“ Er wiederholte das immer wieder. „Meine Stimme hat gezittert, aber ich habe weitergeredet. Ob mein Nachbar Oleg auch etwas gesagt hat, habe ich nicht gehört. Dann warfen sie mich zu Boden, und jemand trat mir mit seinen Stiefeln gegen den Kopf. Ich verlor das Bewusstsein, kam dann aber wieder zu mir und wiederholte das, was ich bereits gesagt hatte. Aber sie haben uns nicht geglaubt.“

Wjatscheslaw glaubt sich zu erinnern, dass es sechs bis acht Männer gewesen sein müssen, er konnte sie nicht alle sehen. Zwei von ihnen waren besonders aggressiv. Einer von ihnen schlug vor, sie „sofort plattzumachen, um sich nicht weiter damit zu stressen“. „Dann kam einer auf mich zu, stellte mir seinen Stiefel auf die Brust und stieß mir die Mündung seines Maschinengewehrs in die Stirn. Der Abdruck war noch lange danach zu sehen.

Ein verkohlter Stiefel in Irpin Foto: Vadim Ghirda/ap

Er wiederholte immer wieder: ‚Wenn du jetzt nicht die Wahrheit sagst, bringe ich dich um, ich bringe dich um, bringe dich um.‘ Ich sagte wieder, dass wir Zivilisten seien. Er nahm das Maschinengewehr von meiner Stirn und schoss neben mir in den Boden. Es war wie im Film, mir wurde schwarz vor Augen, in meinem Kopf war nur noch Nebel. Als ich wieder zu mir kam, wiederholte ich wieder, was ich bereits mehrfach gesagt hatte“, erinnert sich Wjatsches­law. Dann kam ein anderer Russe, trat ihm in die Rippen und drohte, ihm mit einem Messer das Ohr abzuschneiden, sollten sie nicht endlich zugeben, Richtschützen zu sein. Dann drohte er, Wjatscheslaw mit dem Messer die Kehle durchzuschneiden.

Aber in diesem Moment fand einer der Soldaten bei Oleg Geld. Der Nachbar hatte Dollars dabei, tausend oder mehr. Genau weiß Wjatscheslaw das nicht mehr. „Er trug dieses Geld immer mit sich herum, das waren seine Ersparnisse, er wollte sich mit seiner Frau zusammen eine Wohnung davon kaufen. Als sie das Geld sahen, schrien sie ihn an, dass er dieses Geld bekommen hatte, weil er Richtschütze sei, und dass er das endlich zugeben solle“, sagt Wjatscheslaw.

Daraufhin schrie er, dass Oleg ein ganz gewöhnlicher Handwerker sei, ein Fliesenleger, der sein Gehalt nicht in Dollar ausbezahlt bekäme. Dass er ihn kennen würde, dass sie zu ihnen nach Hause mitkommen könnten, wo die Nachbarn das bezeugen würden, dass das seine Ersparnisse seien. Wjatscheslaw wiederholte das immer wieder. Dann hörte er eine Maschinengewehrsalve. Sie hatten Oleg erschossen.

„Sie zwangen mich auf die Knie, ich sah den ermordeten Oleg, und dann fing ich an zu weinen. Ich weinte und wiederholte: ‚Er ist nur Fliesenleger, er war doch nur Fliesenleger‘, erinnert sich Wjatscheslaw und weint wieder. Die Russen entschieden, von ihm abzulassen. Einer von ihnen befahl ihm, sich wieder anzuziehen, weiterzugehen und sich nicht umzudrehen. Sie folgten ihm.

Am Abend wurde es ruhig

„Als ich weiterging, konnte ich immer noch nicht glauben, dass das gerade eben passiert war, ich habe die Realität einfach komplett ausgeblendet“, sagt Wjatscheslaw, er kämpft mit den Tränen. Einer der Soldaten, ein Mann Anfang zwanzig, gab ihm 100 Dollar von Olegs Geld mit den Worten: „Nimm das, das wirst du noch brauchen.“ „Ich habe mich bedankt, aber es natürlich nicht genommen“, sagt Wjatscheslaw.

Dann brachten sie den jungen Mann in ihr Hauptquartier. Sie begannen wieder ein Verhör, zogen ihn wieder aus und begannen dann, über Politik zu sprechen. Dass in der Ukraine Nazis seien, dass Ukrainer im Donbass Leute umgebracht hätten und solche Sachen. „In diesem Augenblick begann irgendwo ein Kampf und ich war ihnen plötzlich egal. Darum stießen sie mich in einen Keller, in dem schon 15 Leute saßen“, erinnert sich Wjatscheslaw.

„Wir saßen dort bis zum Abend, ich kam langsam wieder zu mir. Aber ich wollte dort nicht bleiben, nur ein paar hundert Meter von meinem Zuhause entfernt, wo die Nachbarn auf mich warteten.“

Am Abend wurde es ruhig und die Russen zogen aus der Gegend ab. Da beschlossen zwei der Männer, den Keller zu verlassen, Wjatscheslaw schloss sich ihnen an. Er ging mit den beiden Männern zu dem Elternhaus des einen, wo sie im Keller übernachteten. Am Morgen machten sie aus Bettzeug eine große weiße Fahne und trennten sich: Die beiden Männer wollten weiter nach Kiew, Wjatscheslaw zurück nach Hause.

„Als ich in meine Straße einbog, musste ich buchstäblich über Leichen gehen. Ich stieg über die toten Körper, das waren alles Zivilisten. Ich bemühte mich vergeblich, ihnen nicht ins Gesicht zu sehen. In ihren Augen sah man noch das Entsetzen. Überall waren zerschossene Autos, zerbombte Häuser, durchtrennte Stromleitungen und Berge von Granatsplittern“, beschreibt Wjatscheslaw den grausamen Anblick, der sich ihm bot.

Im Keller wurde es leerer

In den folgenden zwei Wochen verließ er seinen Keller nicht mehr. Am Anfang waren sie dort zu elft gewesen, dann gelang es immer mehr Menschen, Irpin zu verlassen. Dann aber wurde ein Nachbarhaus zerstört, und es kamen wieder neue Menschen dazu.

Nach einigen Tagen machte er sich auf den Weg, um die Stelle zu suchen, an der Oleg getötet worden war. „Oleg hatte sich verändert. Sein Körper hatte sich bereits zersetzt. Als ich an diesen Ort kam, geriet ich in Panik. Ich fiel zu Boden und bekam keine Luft mehr“, sagt Wjatscheslaw.

Im Keller wurde es leerer. Als niemand mehr dort war, beschloss auch Wjatscheslaw, Irpin zu verlassen. Das war zu dem Zeitpunkt, als die ukrainische Armee wieder in die Stadt kam. Das Erste, was er in Kiew tat, war, sauberes Wasser zu trinken. Wjatscheslaw ist froh, dass er noch lebt: „Das Leben hat mir eine zweite Chance gegeben. Jetzt werde ich mit allen weiteren Schwierigkeiten auch noch fertig.“

Wjatscheslaw Pritulenko verbrachte einen Monat in dem von russischen Besatzern eroberten Städtchen Irpin

Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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