Russische Kriegsverbrechen: ​Chefankläger ermittelt in Den Haag

Auf Ersuchen von 39 Staaten hat der Chefankläger am Weltstrafgericht ein Verfahren zur „Situation in der Ukraine“ eröffnet. Was bedeutet das?

Ein Mann sitzt auf einem Stuhl und blickt ernst an der Kamera vorbei

Der Chefankläger der Weltgemeinschaft: Karim Khan in Den Haag Foto: Christian Levaux/Reuters

DEN HAAG taz | Wladimir Putin wird nicht ausdrücklich erwähnt. Das Ermittlungsverfahren, das der Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof, Karim Ahmad Khan, am Mittwoch eröffnete, bezieht sich ganz neutral auf die „Situation in der Ukraine“, von 2013 bis heute. Khan, ein Brite, wird mögliche Verbrechen aller Seiten untersuchen: Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Um den Vorwurf des Angriffskriegs geht es bisher jedoch nicht.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist kein UN-Gericht, sondern beruht auf einem völkerrechtlichen Vertrag, dem römischen Statut, das von 123 Staaten, inklusive Deutschland, ratifiziert wurde. Die Großmächte USA, China und Russland sind nicht beteiligt. Ihre Staats- und Mi­li­tär­füh­re­r:in­nen können aber für Verbrechen auf dem Gebiet von anderen Staaten vor dem IStGH verantwortlich gemacht werden.

Derzeit geht es noch nicht um ein Gerichtsverfahren, sondern um Ermittlungen des Anklägers, also die Suche nach Beweisen und ihre Bewertung. Laut dem römischen Statut gibt es drei Wege, wie ein derartiges Ermittlungsverfahren zustande kommen kann. Der erste Weg ist eine Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat. Das ist im Ukraine-Fall aber faktisch ausgeschlossen, weil Russland dort ein Vetorecht hat.

Der zweite Weg geht von einzelnen IStGH-Mitgliedstaaten aus. Als erster Staat ersuchte zunächst nur Litauen den Chefankläger um Ermittlungen. Binnen weniger Tage folgten aber 38 andere Staaten von Australien bis Ungarn. Auch Deutschland ist dabei.

Als dritter Weg kann der Chefankläger auch selbst ein Verfahren einleiten. Er braucht dazu aber die Zustimmung einer Vorprüfungskammer des Gerichts. Einen entsprechenden Antrag hat Khan am Dienstag gestellt. Jetzt muss eine Kammer aus drei Rich­te­r:in­nen entscheiden, die aus Japan, Italien und der Demokratischen Republik Kongo kommen.

Verbrechen auf der Krim

Khans Vorgängerin Fatou Bensouda führte bereits seit 2014 Voruntersuchungen zur Situation in der Ukraine durch. Dabei ging es um die Niederschlagung der Euro-Maidan-Proteste sowie Verbrechen auf der von Russland 2014 annektierten ukrainischen Halbinsel Krim und bei Kämpfen um die Volksrepubliken Donezk und Luhansk ab 2014.

2019 kam Bensouda zum Schluss, dass auf der Krim zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Auch bei den Kämpfen in der Ostukraine habe es Kriegsverbrechen gegeben. Sie ließ dabei offen, welche Seite verantwortlich war. Auffällig ist, dass sie das Delikt des Völkermords nicht erwähnte, obwohl Putin die Invasion in die Ukraine doch damit rechtfertigte, die Ukraine verübte in den Volksrepubliken einen Genozid.

Einen Antrag an die Vorprüfungskammer stellte Bensouda damals aber nicht. Das mag eine Folge der Coronabelastung gewesen sein und auch mit dem Amtswechsel von Bensouda zu Khan 2021 zusammenhängen. Khan stellte erst jetzt, drei Jahre nach den Schlussfolgerungen Bensoudas, den entsprechenden Antrag. Offensichtlich hat erst die russische Invasion die Ukraine auf den Radar des Chefanklägers gehoben.

Das von den 39 Staaten initiierte Verfahren beschränkt sich aber ausdrücklich nicht auf die alten Vorgänge. Bei der Untersuchung der noch andauernden Invasion steht Khan aber naturgemäß noch am Anfang, so dass nicht mit kurzfristigen Ergebnissen zu rechnen ist.

Einen Haftbefehl, zum Beispiel gegen Wladimir Putin könnte Khan nicht selbst ausstellen. Er bräuchte dafür wiederum die Zustimmung der IStGH-Vorprüfungskammer. Das gleiche gilt für eine Anklage gegen bestimmte Personen. Der Strafprozess würde dann vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag stattfinden.

Ohne einen Machtwechsel in Moskau geht wenig

Unter Kriegsverbrechen versteht man zum Beispiel gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung oder die Misshandlung von Kriegsgefangenen. Dabei müssen die Taten nicht nur gerichtsfest dokumentiert werden. Sie müssten auch der russischen oder ukrainischen Staatsführung zugerechnet werden können. Exzesse einzelner Soldaten oder Truppenteile genügen in der Regel nicht.

Seit 2018 ist der IStGH auch für das Verbrechen der „Aggression“, also des Angriffskriegs zuständig. Hier sind die Hürden für ein Verfahren aber so hoch, dass es faktisch nur mit russischer Zustimmung eingeleitet werden kann. Denkbar wäre ein Verfahren wegen Putins Angriffskrieg also wohl erst nach einem Machtwechsel in Moskau.

Bei Kriegsverbrechen sind die Hürden niedriger. Zwar ist auch die Ukraine kein Vertragsstaat des Römischen Statuts. Sie hat sich aber in zwei Erklärungen von 2014 und 2015 der Rechtsprechung des IStGH für alle Verbrechen ab November 2013 unterworfen. Damit kann der IStGH zumindest Verbrechen auf ukrainischem Boden untersuchen.

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